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Eine fatale Entscheidung
Die Kommissarin
aus Paris - Le petit Lieutenant
Eine selbstgemachte Vertriebskatastrophe.
Der deutsche Filmtitel dieses sensationellen französischen Films ist eine
fatale Entscheidung. - ... Die Verleihfirma aus Tübingen schiebt das mitreißende
Werk auf die deutsch-öde Krimischiene, und der lieblose Starttermin im
Sommer kommt einer Entsorgung gleich. Seien wir daher jetzt lieb zum Film und
geben Le
petit Lieutenant,
dem kleinen Leutnant, den Namen zurück, unter dem er seine Festivalerfolge
feierte. Bei uns wird, wer in der Kripo anfängt, Inspektor. Was erwartet
ihn? Wie sind die Kollegen drauf? Was passiert? Wir sind in Paris; was wird
aus der Familie des Jungverheirateten fern in der Provinz?
Das gibt keinen Krimi, aber eine
Reportage. Wir sind nah dran an einem Dokumentarfilm, und doch haben wir es
mit Schauspielern zu tun, guten. Liegt es daran, dass man glaubt, was man sieht?
Oder haben wir die Gewissheit, dass die Szenen nicht etwa dazu da sind, Bedeutung
zu transportieren fürs Drehbuchplot? Also echt: es ist mitnichten ein Drehbucheinfall,
wenn nachts der junge hübsche Leutnant-Inspektor (Jalil Lespert) und die
reife, lebenserfahrene Kommissarin (Nathalie Baye) nebeneinander an der Seine
stehen und wir es sehen, wie die, die Mutter hätte sein können, wie
selbstverständlich kifft. Und der Neue im Team? "Ich rauche nicht",
sagt er noch korrekt, bevor er inhaliert. Im Vordergrund geht ein junger Typ
vorbei. Mit Hund. Ein paar Augenblicke kommt er zurück: "Darf ich
auch mal ziehen?" Er darf. Im Weggehen warnt er: "Passt auf, hier
sind überall Bullen!".
Klar, dass die Szene nicht kommentiert
wird. Sie wird auch keine Rolle spielen. Sie passiert, und das wars. Regisseur
Xavier Beauvois berichtet, was er selbst erlebt hat, pseudo-under-cover bei der Kriminalpolizei in Paris, "wobei ich mich manchmal
selber als Kommissar ausgab; so bekam ich Zutritt zu den Schauplätzen der
Verbrechen und zu den Untersuchungen wie denen der Autopsie". Infolgedessen
hören wir es sehr deutlich, wie die Elektrosäge den Schädelknochen
absägt und wie die Knochen krachen, wenn man sie auseinander hebelt. Nichts
stört, niemand redet uns ein, was wir davon halten sollen. Die Säge,
der Hebel, der Ton ist schiere Präsenz und weiter nichts.
Ein deutscher Staatsanwalt wird
von Amtsanmaßung reden. Wer ins Kino geht, wird sich freuen, dass einer
zuzusehen und zuzuhören gelernt hat. Xavier Beauvois, 39, assistierte früher
André Téchiné. 24 war er, als er für Philippe Garrel
ein Drehbuch schrieb ("Le vent de la nuit"). Für seinen Film
"Vergiss nicht, dass du sterben musst" bekam er 1995 in Cannes den
Preis Jean Vigo.
Okay, das ist name-dropping für Fortgeschrittene. Im
Übrigen sollen die Referenzen meine Behauptung beglaubigen, dass "Der
kleine Leutnant" vom Besten ist, was die französische Filmkultur zu
bieten hat. Auch ist Jungleutnant Jalil Lespert, 28, derzeit mit Preisen überhäufter
shooting
star in
Frankreich, während Nathalie Baye schon vor mehr als dreißig Jahren
als Truffaut- und dann Godard-Star begann. Ja, man sieht es ihr an. Ihr Gesicht
erzählt Geschichten und verbirgt Geheimnisse. Sie braucht keine Drehbucheinfälle,
um uns etwas zu sagen. Wir nehmen ihr ab, was sie macht. Zum Beispiel, dass
sie vor zwei Jahren noch schwer alkoholkrank war und jetzt mit der Arbeit erst
wieder anfängt. Eventuell könnten diese Szenen, die uns immer wieder
zu den Anonymen Alkoholikern führen, aber auch von Beauvois selbst erlebt
sein; er deutet so etwas an ("Situationen, die ich selber erlebt habe").
Um es bis zum Überdruss zu
sagen: wir kommen mit den eher hilflosen Therapiesitzungen nicht in den Problemfilm.
Sie passieren. Genauso wie das Inspektorengespräch an der Bar. "Darf
jeder seine Rechte in Anspruch nehmen? Doch nicht der Serienmörder!".
- "Du warst bisher rechts, aber jetzt bist du rechtsextrem". - "Wie?!"
- "Fascho!"
Vergessen wir also die Szene?
- Was mich betrifft, ich behalte sie. Für das, um das es dem Film nebenbei
auch noch geht, spielt sie keine Rolle. Aja, ehe ich das nun vergesse und womit
ich professioneller Weise hätte anfangen sollen: die Handlung des Films.
Ja, also, es ist so, dass die Polen- oder war’s die Russenmafia? - die aufkeimende
Beziehung zwischen Kommissarin (in, nicht aus Paris) und dem Jungleutnant stört,
wodurch diesem Schlimmes widerfährt und jene zwischen der Flasche und dem finalen
Rettungsschuss wählen muß. - Wenn Sie das wissen müssen, um
ins Sommerkino zu gehen und den Film gut finden zu können, nur zu.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text erscheint - so oder
ähnlich - auch in der taz
Eine
fatale Entscheidung
Frankreich
2005 - Originaltitel: Le Petit Lieutenant - Regie: Xavier Beauvois - Darsteller:
Nathalie Baye, Jalil Lespert, Roschdy Zem, Antoine Chappey, Xavier Beauvois,
Jacques Perrin, Patrick Chauvel, Jean Lespert, Annick Le Goff - Länge:
110 min. - Start: 6.7.2006
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