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11:14
elevenfourteen
Die Schadenfreude
kulminiert, wenn Schicksalspfade konfligieren
Wer Horrorfilme kennt, der weiß, dass amerikanische
Kleinstädte nicht davor gefeit, sondern wegen des begrenzten Territoriums
und der überschaubaren Personenzahl geradezu prädestiniert dafür
sind, Schauplätze blutiger Events zu sein. „11:14“ ist zumindest in dieser
Hinsicht keine Ausnahme.
Im verträumten Kaff Middleton machen sich eines
Abends gegen 23 Uhr die Schicksale elf sich zum Teil unbekannter Personen auf
den Weg, um kurze Zeit später mitunter einschneidend in das Leben der/des
anderen einzugreifen. Als verbindende Hauptfigur fungiert die mit nuttigem Outfit
und billigem Make-up texturierte Cheri, die an diesem Abend unbedingt noch mal
vor die Tür muss, um ihrem Lover A, wie vereinbart, 500 Dollar für
den Abortus ihrer vermeintlichen Schwangerschaft abzuknöpfen. Auf dem unweit
des Elternhauses gelegenen Friedhof bedankt sie sich dann auf ihre Weise. Die
grobe Fahrlässigkeit, mit der die beiden Nachtschwärmer den Koitus
vollziehen, führt aber zum Exitus von Lover A. Das ruft Cheris Vater Frank
auf den Plan, dessen übliche Abendroutine (Fernsehen, Sandwich belegen
und Hund ausführen) unterbrochen wird und der jetzt Cheris Altlasten beseitigen
darf. Die ist mittlerweile auf dem Weg zu Lover B/Duffy, um ihm denselben Betrag
mit derselben Mär zu entlocken. Duffy hat aber zuviel Geld in sein Auto
gesteckt und entwickelt zum Zwecke der kurzfristigen Liquiditätssteigerung
mit der zunächst widerspenstigen Buzzy den Plan, einen Überfall auf
das Geschäft zu fingieren, in dem sie gerade als Verkäuferin ihre
Schicht schiebt.
Zu diesem Quintett gesellt sich noch das Trio Halbstarker,
das als Ausdruck seiner anti-bürgerlichen Rebellion die Kuh fliegen lassen
will und deshalb mit einem Kleintransporter unsinnstiftend durch das idyllische
Örtchen cruist und dabei sehr unachtsam jemanden auf den Kühler nimmt.
Dabei bekommt einer der drei, Eddie, die Phallhöhe von gelöster Glückseligkeit
bis zur völligen Verzweiflung besonders sezierend zu spüren.
Komplettiert wird das illustre Teilnehmerfeld zum
einen durch den angetrunkenen Jack, der in Middleton eine Verabredung hat, dem
es aber just 23:14 den entspannten Abend verhagelt, als ihm ein – sich als menschlicher
Körper entpuppender – Brocken die Windschutzscheibe zersplittert. Zum anderen
durch Cheris Mutter Norma, die Jack gegenüber – auf einem fundamentalen
Missverständnis fußende – Rachegefühle hegt, und den diensthabenden
Officer des Städtchens, den die Eigendynamik der aufgekratzten Mischpoke
offensichtlich überfordert und dessen Dienstbucheintragungen wohl diesmal
über das übliche "keine Vorkommnisse" hinaus gehen werden.
Das Zweitwerk, und erste in Spielfilmlänge,
im bis dato überschaubaren Œuvre des Independent-Regisseurs Greg Marcks
collagiert den mäandernden und vexierenden Stil des Verwirrkinos mit dem
Ethos des Schicksalstheaters. Letzteres feierte, relativ sparsam produziert,
mit Haggis’ „L.A.
Crash“ einen respektablen, oscar-gepushten
Boxoffice-Erfolg. Während aber bei „L.A. Crash“ der Zufall die Methode
ist, Menschen miteinander zu konfrontieren um deren Reaktionen zum Anlass zu
nehmen, sich in soziokulturelle und gesellschaftskritische Vertiefungen zu versteigen,
die einem der eher aufdringliche Subtext als fertig abgepackte "Respektiert
einander"-Ethikmedizin mit auf den Heimweg gibt, so ist er bei „11:14“
das zentrale Thema. Das Freilegen tieferer Sinnebenen, die über die offensichtliche
Binsenweisheit shit happens hinausgehen, fördert dann noch Hinweise auf
die tief verwurzelten Verlustängste der Figuren zu Tage: Duffy fürchtet,
Cheri zu verlieren, Buzzy ihren Job, Eddie seinen Penis, Jack seine Freiheit,
Frank und Norma ihre Tochter usw.
Viel beachtet ist die Erzählstruktur von „11:14“.
Der Film enthält fünf Geschichten, die an ihren Schnittpunkten ein
und dasselbe Geschehen aus verschiedenen Perspektiven beleuchten und auch unabhängig
vom Gesamten betrachtet ihren Reiz haben. Die bloße Verschiebung des Blickwinkels
würde den Erkenntnisgewinn aber nur in modestem Maße vorantreiben.
Um dem Zuschauer regelmäßige Fortschritte zu sichern, wird an die
einzelnen Häppchen, die, leicht zeitversetzt, alle etwa gegen Viertel bis
zwanzig nach elf in ein offenes Ende flüchten, ein jeweils größeres
Stück Vorgeschichte angeflanscht. Marcks, Regisseur und Drehbuchautor in
Personalunion, verschraubt die aufeinander gestapelten Storys und montiert sie
so (fast virtuos) zu einem aparten Ganzen. Der exorbitante Schwierigkeitsgrad
dieser Kür fordert einen zur Suche nach eklatanten Plotholes provozierend
heraus. Das hat Marcks anscheinend geahnt und deshalb versucht, nur wenig Angriffsfläche
zu geben. Kleinere Ungenauigkeiten und – die krassen Zufälle mal ausgeklammert
– auch Unglaubwürdiges kann man dennoch ausmachen.
Im ersten Moment, so scheint es, macht aber „11:14“
hier nichts neues, sondern rekurriert einfach auf die Narration von Klassikern
wie Kurosawas „Rashômon" oder Kubricks „Die
Rechnung ging nicht auf“. „Rashômon“
aber sujetiert unterschiedlich motivierte Alternativversionen eines Geschehens
aus der subjektiven Sicht des jeweils Erzählenden. Ähnlicher ist „11:14“
da noch eher „Die Rechnung ging nicht auf“, denn dort werden die verschiedenen
Perspektiven von einem neutralen Erzähler wiedergegeben. In „11:14“ hingegen
ist die Erzählinstanz nicht nur übergeordnet, sondern auch stumm,
ungegenständlich und stellt eine Distanz zur jeweils in den Mittelpunkt
gerückten Figur her, d.h. man kann kaum subjektiv mitempfinden, sondern
steht daneben und schaut zu. Sie ist allwissend, lässt uns jedoch – bis
zur Auflösung – nicht alles wissen. Aber was gezeigt wird, ist – zumindest
im Rahmen des Filmes – für bare Münze zu nehmen. Ein desillusionierender
Verbal Kint-Schockmoment, der alles auf den Kopf stellt, muss daher nicht gefürchtet
zu werden.
Genauso wenig muss man aber einen wirklichen Helden
fürchten, denn die zeitlich eingeengte und, wie bereits beschrieben, weitgehend
unbeteiligte Beobachtung einer Person erschwert die Mitfieberambitionen und
lässt je nach Perspektive jeden Mal vom Pro- zum Antagonisten und umgekehrt
rochieren.
Marcks überlappt aber nicht nur die liebevoll
kredenzten Kleinstadtepisoden, dasselbe geschieht mit den erwartungsgemäß
einspieltechnisch profitablen Genres Horror/Thriller und Comedy. Normalerweise
schickt es sich ja nicht, sich über das Leid der bemitleidenswerten Kleingeister
zu amüsieren, die einem in vielen unfreiwillig komischen Horrorfilmen vorgesetzt
werden. In „11:14“ hingegen sind der ganze Stil und die comichaft-überspitzte
Charakterzeichnung darauf angelegt, zugleich Situationskomik zu produzieren,
durch Gewalt zu schocken und dazu noch hübsch twistig zu sein. Aber vor
allem mit letzterem stimuliert der Film den populären Kritikervorwurf,
er wäre einzig darauf konzipiert, den Bedarf des Zuschauers an Aha-Erlebnissen
und Schockmomenten zu saturieren und sei damit ausschließlich kommerziell
begründet.
Und wenn schon. „11:14“ ist zwar
ohne Frage filmisches Fastfood, das aber straff, stringent und stilistisch wertvoll
dargeboten wird und nicht durch überladenen Tiefgang, der hier eher wie
ein Fremdköper wirken würde, entstellt wird. Marcks stellt eine Milchmädchenrechnung
auf: Man kombiniere Money-Genres und Innovation mit bekannten Gesichtern (Swayze,
Swank, Hershey, Cook u.a.) und konstruiere dazu eine im Grunde simple Geschichte,
die sich durch einen einfachen, aber wirkungsvollen Bauerntrick wenngleich nicht
schließen, so doch immerhin als gelöst und damit als publikumsbefriedigend
bewerten lässt – Fragen stellen sollte man besser nicht. Die Gleichung
ging zunächst nicht auf, denn dem Film war in den USA kein Leinwanddasein vergönnt. Die direkte
Verfrachtung in die Videotheken hat dann aber sicherlich mythenbildend gewirkt
und den Film zu einem Status verholfen, den man gerne leichfertig als Kult bezeichnet.
Schlussendlich muss man „11:14“ aber sehen als das, was er ist: gutgemachte,
pure Unterhaltung, die wirklich Spaß macht. Und das muss ja auch mal genügen.
Erik Pfeiffer
11:14
elevenfourteen
11:14
USA/KAN – 2003 – 86 min.
– Erstaufführung: 16.5.2003 (Cannes, Weltpremiere)/30.7.2003 (D)/1.9.2005/29.12.2005
DVD
Regie: Greg Marcks
Buch: Greg Marcks
Kamera: Shane Hurlbut
Musik: Clint Mansell
Schnitt: Richard Nord, Dan Lebental
Darsteller: Rachel Leigh Cook (Cheri), Patrick Swayze
(Frank), Shawn Hatosy ( Duffy), Hilary Swank (Buzzy), Clark Gregg (Officer Hannagan),
Henry Thomas (Jack), Blake Heron (Aaron), Barbara Hershey (Norma), Stark Sands
(Tim), Colin Hanks (Mark), Ben Foster (Eddie), Jason Segel (Leon, Sanitäter
#1), Rick Gomez (Kevin, Sanitäter #2)
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