zur startseite

zum archiv

100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker

 

Aus der Hand heraus wird das künstliche Licht in diesem Schwarzweißfilm gesetzt: Wie Suchscheinwerfer erfasst das grelle Weiß neun absurde Frauen und Männer. Menschen, die in nahezu autistischem Exzess ihre letzte Stunde feiern. Es ist die letzte Stunde im Führerbunker, die letzte Stunde überhaupt für jene Kreaturen. Ja, es ist Hitler, der sich verbarrikadiert hat, weil ja die Russen vor Berlin stehen. Doch der 60-minütige Countdown bis zum Filmende und bis zum Ende des Nationalsozialismus wird nicht historisch korrekt dokumentiert, so wie es einige verbissene Dramen in der Vergangenheit versuchten. Nein, hier ist Hitler kein Feldherr, kein Militarist, kein Reichskanzler und auch kein Politiker. Er ist der dem Wahnsinn verfallene, kleine Mann, einer Morphiumleiche gleichend. Er versucht sich in seinen letzten Minuten noch einmal der Kunst zu widmen: Setzt sich mit blankem Arsch in Farbe und drückt daraufhin mit seinem Allerwertesten einen Abdruck von diesem auf ein Stück Leinwand. Und obwohl der großartige Udo Kier hier den Adolf Hitler spielt, ist er nicht der charismatische Massenverführer und Prototyp alles Bösen. Aus dem Führerbunker wird eine Irrenanstalt, aus Hitler nur ein Insasse dieser.

 

Gedreht wurde innerhalb von 16 Stunden an einem Stück voller Improvisation und in echter klaustrophobischer Umgebung. Im Bunker wird mit wenigsten Mitteln ein spontaner Performance-Charakter erreicht, der für einen politischen Hitlerfilm undenkbar wäre. Und durch jene bewusste Destruktion und Auslassung von geplanter Kinematographie und einstudierten Dialogen bekommt der Film, auch wenn diverse bewusste Filmfehler ihn immer wieder als einen solchen ausweisen, die Dimensionen einer Theatervorstellung. Der Film scheint chronologisch gedreht worden zu sein und bedient sich keiner "allwissenden" Schnittweise: Form und Resultat des Films scheinen gewollt zufällig zu sein.

 

Mit "100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker" schneidet Regisseur Christoph Schlingensief sein Hitler-Sujet vollkommen von jeglicher pädagogischen Aufklärungshysterie ab und fügt der historischen Figur etwas hinzu, das befreiend und entmystifizierend wirkt: Das Absurde. Aus Hitler wird eine Lachnummer, eine Selbstparodie. Hitler wird aber auch zu dem, was er wohl am wahrscheinlichsten war: Ein geistesgestörter Mensch. "100 Jahre Adolf Hitler" ist somit wohl der einzige Hitlerfilm, der keine Standbilder und keine ästhetischen Motive bietet, die sich Neonazis ausschneiden und in ihr Poesiealbum kleben können. Die Zeitfigur verliert an Kontext und Relevanz für jegliche Falschdeutung, wird auf ihre verwirrte Essenz reduziert.

 

Die Essenz sieht folgendermaßen aus: Unter expressionistischer Beleuchtung und bewusster Implementierung von "Filmfehlern" (der Schnitt lässt das Schlagen der Klappe nicht aus, die Tonangel drängt sich ständig ins Bild) entsteht das pure Chaos: Obwohl fast schon Mai gibt es Aprilscherze zum Heiligabend. Dazwischen begeht Goebbels Inzest an der Tochter, weil seine Frau Angst um den Führer hat und deshalb unpässlich für die ehelichen Pflichten geworden sind. Göring träumt davon, Reichskanzler zu werden und intrigiert zusammen mit Bormann. Als Hitler stirbt, klebt sich die vollkommen durchgedrehte Eva Braun einen falschen Hitlerschnurrbart an, mutiert zum neuen "Führer" und heiratet Frau Goebbels. Die stirbt allerdings während des Ja-Wortes an einer gleichzeitigen Geburt. Das Kind, von Führer Eva Braun Moses getauft, wird wie auf dem Euphrat in Mühlheim ausgesetzt. Damit die Kritiker es endlich kapieren. Und dazwischen immer wieder Fegelein, der in den kurzen Momenten der Stille immer nur eins zu sagen hat: "Ficken!"

 

Dieser sexuelle Imperativ verdeutlicht den Humor, den der Film durchaus besitzt. "100 Jahre Adolf Hitler" ist die erste funktionable Parodie auf Hitler, da sie sich der ordinären Wahrheit eher nähert als die simple Slapstickorgie Lubitschs – ja, Hitler geht aufs Klo. Kacken. Schlingensief ist nicht nur Politfilmer, sondern auch Filmer an sich, der die Tabuisierung jener historischen Persönlichkeiten bewusst unterwandert und innerhalb von 60 Filmminuten zur cineastischen Explosion bringt. Er ist jener, der bewusst verkünstelte Aufnahmen von nachgestellten Geschichtsereignissen mit der Wim Wenders Cannes-Aussage, er wolle die Bilder der Welt verbessern, um die Welt zu verbessern, akzentuiert. Schlingensief verbessert unser Bild unserer eigenen Vergangenheit und verbessert somit – mehr als es Wenders je geschafft hat, da er sich nie der Filmsprache bedient hat, um politisch zu werden – unsere Welt. Schlingensief feiert mit uns 100 Jahre Adolf Hitler und macht ihn in dem Moment zu einem ganz erbärmlichen, fleischlichen Wrack, während die edukative Dokumentarfilmmaschinerie ihn langsam zum Popstar macht. "100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker" ist der wichtigste filmische Kommentar über Deutschland und dessen Beziehung zu seiner Vergangenheit.

 

Björn Last

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Mitternachtskino

Zu diesem Film gibt es im archiv der filmzentrale mehrere Texte

 

100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker.

Deutschland, 1989. Regie: Christoph Schlingensief. Drehbuch: Christoph Schlingensief (nach seinem Theaterstück). Produktion: Christoph Schlingensief. Kamera: Voxi Bärenklau. Schnitt: Christoph Schlingensief. Musik: Tom Dokoupil. Darsteller: Volker Spengler (Fegelein), Margit Carstensen (Frau Goebbels), Alfred Edel (Hermann Göring), Udo Kier (Adolf Hitler), Dietrich Kuhlbrodt (Joseph Goebbels), Andreas Kunze (Martin Bormann), Brigitte Kausch-Kuhlbrodt (Eva Braun). Marie-Lou Sellem (Goebbels Tochter). Schwarzweiß. 60 Min.

 

 

DVD bei : www.filmgalerie451.de

System: PAL

Laufzeit: ca. 55 Minuten + Extras

Bildformat: 4:3

Tonformat: Originalkinoton: lautes Mono

Extras: Interview mit Christoph Schlingensief

FSK: ab 16

 

zur startseite

zum archiv