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100 Jahre Adolf Hitler

 

Irre im Bunker

 

Da scheißt jemand. Es ist Goebbels. Der sieht dabei aus wie ein Mensch. Die politisch korrekte Öffentlichkeit aber hat uns doch immerfort eingetrichtert, Hitler und die Seinen als Teufel oder Inkarnation des Bösen zu betrachten. Aber nein, tatsächlich waren es Menschen. Oliver Hirschbiegels und Bernd Eichingers "Der Untergang", der das Führergemüt an seinem Lebensabend untersucht, kommt auch zu jenem Schluss: Adolf Hitler war ein Mensch, ein irrer Mensch. Er ist bei Hirschbiegel und Eichinger gar ein bemitleidenswerter Mann, gebrechlich und der Illusion verfallen. Man wollte authentisch sein und berief sich dafür in erster Linie auf das gleichnamige Buch des Historikers Joachim Fest und die Erinnerungen der Zeitzeugin Traudl Junge.

 

Christoph Schlingensief dagegen entsagt der historischen Authentizität. Oder, um es im Schlingensief-Dialekt zu formulieren: Er scheißt drauf. Mitunter erblickt man da in einer Einstellung kurz ein Hakenkreuz, dessen Haken in die falsche Richtung zeigen; und aus Magda Goebbels wurde einfach Martha Goebbels (Margit Carstensen). Ihr Joseph (Dietrich Kuhlbrodt), der sitzt hier nun auf der Kloschüssel. Geht einem menschlichen Bedürfnis nach, ist als Mensch identifiziert. Er fickt ja auch. Nicht – wie ein Tier – aus biologischem Grund, nicht der arischen Vermehrung wegen. Spaß will er haben. Und ja, wie ist das doch wunderbar! Was würde ich nicht alles geben, um Guido Knopp in eine Extravorstellung "100 Jahre Adolf Hitler" zu setzen und mich an seinem empörten Gesicht zu erfreuen. Es gibt noch Politfilmer mit Herzblut, die sich der Kommerzialisierung des Nazireiches widersetzen und die historisch aufarbeiten, ohne anbiedernd zu emotionalisieren. Schlingensief ist so einer.

 

Gegenstand dieses Werkes ist die letzte Stunde im Führerbunker. Bei Hirschbiegel und Eichinger steht sie auch im Fokus. Das ist die große Parallele. 1989 allerdings betrat Schlingensief mit seinem Film eine ganz andere Dimension. Hier ist jene letzte Stunde ein Panorama des Irrsinns und bedeutet den Abstieg in eine Kloake: Horror mal ganz anders. Der Bunker wird zum klaustrophobischen Live-Erlebnis. Dieser Drehort gibt einem das Gefühl, in einer Sardinenbüchse zu stecken. Er wirkt nicht marode, er ist marode. Keine Kulisse, sondern ein echtes Fossil des Zweiten Weltkrieges, stehend in Mülheim. Naturalistisch taumelt die Kamera durch dieses Gefilde, immer auf eine Gestalt fokussiert, und liefert Schwarzweißbilder. Licht spendet eine Handleuchte, erhellt nur einen kleinen Ausschnitt des Dunkels und fahndet nach den Darstellern, die in der Dunkelheit und Enge des verfallenden Raumes selbst zu Verrückten mutieren. Der Bunkermoloch hat sie fest in seiner Gewalt.

 

Akustisch werden unterschwellig, fast unterbewusst, einschlagende Bomben wahrgenommen, die zum Beklemmenden und Bizarren beitragen. Und doch ist alles zugleich auch komisch und wird von Mal zu Mal komischer. Man ist ein Lachender in der Zwangsjacke, denn diese Psychiatrie hat einen bereits verschlungen. Jener närrische Witz resultiert unweigerlich aus dem expressiven, befreienden Trash, der geradezu rhapsodisch abläuft: improvisiert, bruchstückhaft. Das unterstreicht der unauffällig sorgfältige Schnitt, der die schlagende Klappe vor Beginn jeder Szene zeigt. Ein dramaturgisches Gerüst steht nicht; der Exzess – das ist seine Natur – ist wild, ein Chaos, eine Unordnung.

 

Ist dies gegeben, ein Zustand, in dem es keinen Halt gibt, fühlt sich der Wahnsinn heimisch. Hier ist er Programm und wird, sich in diesem historischen Kontext befindend, nun politisch. Schlingensief greift die ideologischen Inhalte des Nationalsozialismus zwar nicht direkt auf, doch er filtert die Absurdität seiner Ideologie heraus und projiziert sie als versinnbildlichendes Konzentrat auf die Leinwand. Als Hyperbel erreicht uns das mit geballter Kraft, wie eine andauernde Druckwelle. Der den Nationalsozialisten anhaftende Irrsinn war im Grunde nie bildhafter: Ende April feiern sie Weihnachten und singen: "Leise rieselt der Schnee" und "Stille Nacht, heilige Nacht". Im Bunker aber ist es nicht still, nicht heilig. Man schreit, man stöhnt, man fickt. Wir mittendrin, statt nur dabei. Heil.

 

Der Fegelein in Unterwäsche (Volker Spengler spielt ihn mit einem wahrlich bezaubernd wirren Blick) massiert sich gleich in seinem ersten Auftritt die Nippel und hat nach der Brustwarzenstimulation nur noch eines zu sagen: "Ficken", halb fragend, halb ausrufend und putzig wie ein begeistertes Kleinkind. Goebbels dagegen versucht sachlich zu bleiben, bis er sich von seiner Tochter einen blasen lässt und in sie eindringt – und dabei seine Haare verliert. Eva Braun, die Inbrünstige (Brigitte Kausch großartig overactend), kündigt zunächst aus ganzem Leibe militärisch brüllend den Führer an: "Aaachtung, der Füührer! Aaaachtung, der Füüührer! "Achtung, der Führer!". Der Führer kommt. Daher geschlichen. Martha Goebbels’ Augen blitzen und Eva freut sich, ist dem Orgasmus nahe. Ihr Adolf (Udo Kier), Parkinson befallen, ist ein lethargisches, verwirrtes Morphiumwrack, ist die personifizierte Dekadenz in der Endstufe, weit entfernt vom Propheten des "Endsieges". Mit seinem größten Akt hier begibt er sich zurück zu seinen Wurzeln: natürlich der Kunst. Seinen bloßen Arsch tunkt er in Farbe und presst ihn gegen ein an der Wand klebendes Stück Papier. Welch ein Kunstwerk! Scheiß auf die Wiener Kunstakademie!

 

Göring (Alfred Edel) will indes Reichskanzler werden und proklamiert seine Herrschaft, als Hitler stirbt. Doch der Führer, den man an seinem Bärtchen erkenne, ist nicht tot: Eva, nun mit Schnauzer, hat die Metamorphose vollzogen und ist der neue Führer. Göring sieht es ein. Jetzt will man auch gleich heiraten: Führer-Eva mit der Martha. Doch Frau Goebbels krepiert während des gestöhnten Ja-Wortes. Ein Kind hat sie geboren. Joseph aber trauert, ist fassungslos und hat schon wieder seine Haare verloren. Der Höhepunkt des Absurden wurde unlängst erreicht. Bald ist das Stück dann auch zu Ende. Alles entfesselt, alles Wahnsinn. Das waren sie also, die Übermenschen.

 

Daniel Szczotkowski

 

Dieser Text ist zuerst erschienen bei: www.ciao.de

Zu diesem Film gibt es im archiv der filmzentrale mehrere Texte

 

 

 

100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker.

Deutschland, 1989. Regie: Christoph Schlingensief. Drehbuch: Christoph Schlingensief (nach seinem Theaterstück). Produktion: Christoph Schlingensief. Kamera: Voxi Bärenklau. Schnitt: Christoph Schlingensief. Musik: Tom Dokoupil. Darsteller: Volker Spengler (Fegelein), Margit Carstensen (Frau Goebbels), Alfred Edel (Hermann Göring), Udo Kier (Adolf Hitler), Dietrich Kuhlbrodt (Joseph Goebbels), Andreas Kunze (Martin Bormann), Brigitte Kausch-Kuhlbrodt (Eva Braun). Marie-Lou Sellem (Goebbels’ Tochter). Schwarzweiß. 60 Min.

 

 

DVD bei : www.filmgalerie451.de

System: PAL

Laufzeit: ca. 55 Minuten + Extras

Bildformat: 4:3

Tonformat: Originalkinoton: lautes Mono

Extras: Interview mit Christoph Schlingensief

FSK: ab 16

 

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