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1001 Nacht

 

Das unmögliche Kunstwerk

Miguel Gomes’ grandiose Filmtrilogie "1001 Nacht" ist komplett.

Wie eine Kritik über drei Filme beginnen, deren Regisseur sich schon in der ersten Szene aus dem Staub zu machen versucht, weil es unmöglich ist, einen verführerisch schönen und zugleich wahrhaftigen Film (über sein Land: Portugal) zu machen? Über einen Film, der im Lauf seiner Entwicklung immer wieder den Ton, die Erzählweise, ja sogar das Format ändert, gleichzeitig aber von einem feinen Geflecht von Analogien, Metaphern, Kompositionselementen zusammengehalten wird? Über einen Film, der einerseits von einem Regisseur auf der Flucht und seiner ihn verfolgenden Co-Autorin erzählt wird, andererseits aber auch von einer Märchenfigur, der schönen Scheherazade, die bekanntlich um ihr Leben erzählte, 1001 Nacht lang?

Drei Filme von jeweils mehr als zwei Stunden Länge, entstanden aufgrund einer Reise durch Portugal, gestaltet von einem kollektiven Erzähler, der Geschichten und Episoden überlagert, manches nur andeutet, anderes auserzählt, der dokumentarisch, fiktional, politisch und märchenhaft erzählt, manchmal dramatisch und verzweifelt, manchmal sehr komisch und deftig (wie in der Geschichte von den Vertretern der europäischen Austeritätspolitik, die sich durch einen afrikanischen Medizinmann von ihrer Dauererektion mit wahrhaft märchenhaften Geldsummen erlösen lassen) – wie soll man, auf 130 Zeilen, einen Film zugleich beschreiben und erfassen, der eben davon handelt, dass man der Wahrheit nur näher kommen kann, wenn man beherzt auf die Illusion einer kohärenten Erzählung verzichtet, um ein schönes, vielstimmiges und multiperspektivisches Durcheinander anzurichten, das gleichwohl beständig offenbart, wie eines mit dem anderen zusammenhängt? Wie also eine Kritik über einen Film beginnen, der sich genau von dem frei gemacht hat, was man die übliche Grammatik der Filmerzählung oder die gängige Unterscheidung zwischen dem Realen und dem Erfundenen nennen könnte?

Miguel Gomes schuf also drei Filme – "Der Ruhelose", "Der Verzweifelte", "Der Entzückte" –, die eigentlich einer sind und auch einen gemeinsamen Übertitel haben: "1001 Nacht", und trotzdem ist jeder für sich auch wieder sehr eigen. Die Einzelteile dieser Trilogie tragen den Betrachter davon, auf den Flügeln von Zorn und Poesie, nach Bagdad oder nach Viana da Castelo, in den Norden Portugals, wo gerade eine Werft geschlossen werden soll und 600 Arbeiter ihren Job verlieren, die eine Stimme und viele Geschichten zu erzählen haben. Wer diese Filme beschreibt, müsste eine Fährte durch das Ganze legen, eine Leitmelodie entwickeln, während die Tiere, die in den jeweiligen Teilen eine Schlüsselrolle einnehmen, der Hahn, der Hund, der Wal (drei Möglichkeiten der Unfreiheit, in der Luft, zu Erden und im Wasser), eine Gegenmelodie anstimmen.

Die drei Filme ändern ihren Charakter, je nachdem, was man als "Zentrum" des Geschehens annimmt. Was ist das Zentrum? Vielleicht jene Gerichtsszene im Amphitheater im zweiten Teil, in der die Richterin an der Dummheit, der Gemeinheit und der Verzweiflung der Menschen scheitert? Oder doch lieber die Geschichte der aus ihren Wohnungen am Flughafen vertriebenen Männer, die ihre ganze Energie dareinsetzen, Finken zu fangen und ihnen die schönsten Melodien beizubringen? Wie schreibt man über einen Film, in dem Erzählen keine kulturelle Technik ist, sondern eine soziale Praxis, das poetische Grundrauschen, welches von der Bevölkerungsschicht so oft überhört wird, die in "1001 Nacht" überhaupt nicht vorkommt, dem hippen, urbanen Kleinbürgertum, wie also von einem Film schreiben, der die eigene Unmöglichkeit an den Anfang gestellt hat?

Vielleicht könnte man mit der Kamera beginnen. Sie wird geführt von dem Thailänder Sayombhu Mukdeeprom, der für Apichatpong Weerasethakul unter anderem "Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben" (2010) gedreht hat. Er fängt den Zauber im Realen und die Realität hinter dem Allegorischen ein, er findet eine Lichtkomposition, die eine immer enger werdende Gesellschaft mit einer magischen Landschaft verbindet, er erfüllt das Unerträgliche ebenso wie das Unglaubliche mit einer ganz besonderen Wärme, die uns auch da an den humanistischen Grundauftrag dieses unmöglichen Films erinnert, wenn dem Regisseur und den Autoren die fabulösen Gäule durchgehen.

Oder man könnte mit dem Prinzip der Überlagerung beginnen. Die eine Geschichte schiebt sich in die andere, ohne eine vollständige metaphorische Einheit zu behaupten; Bild und Text öffnen, sich überschneidend, einen Raum für die eigene Fantasie – und dies vor allem durch die Off-Stimmen der drei Erzähler, des Autors, der Scheherazade-Figur und der kollektiven Erzähler aus einer tristen portugiesischen Welt, die keineswegs gewillt sind, sich das Recht auf ihre Geschichte(n) nehmen zu lassen. "1001 Nacht" muss man als Zuschauerin und als Zuschauer auch mitdenken und mitträumen.

Oder man könnte mit der Musik beginnen. Miguel Gomes benutzt alle erdenklichen Formen von Musik; häufig dient sie eher einer kontrapunktischen als einer illustrativen Komposition. Auch hier begegnen sich immer wieder Erlösungssehnsucht und eine große cineastische Unverfrorenheit, etwa wenn der urbane Un-Ort, an dem ein Doppelsuizid stattfand, mit Lionel Ritchies "Say You, Say Me" gleichsam gefüllt wird ("I had a dream I had an awesome dream / People in the park playing games in the dark / And what they played was a masquerade"). Die Leitmelodie von "1001 Nacht" aber ist die mexikanische Klage Perfidia, die in mehreren Versionen vom Verrat erzählt. Perfidia kommt auch in dem Film "Casablanca" vor, und außerdem ist es die Bezeichnung einer Software, mit der sich Arbeitgeber und Krankenkassen heimlich über ihre Klienten beziehungsweise Opfer austauschen.

Diese beiden Hinweise haben übrigens gar nichts mehr mit Miguel Gomes’ Wunderfilm zu tun, oder anders gesagt, sie zeigen, wie er sich jenseits der Leinwand in einem Kopf weiterbewegen kann.

Georg Seeßlen

 

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Die Zeit

Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte

 

 

  

1001 Nacht
(As mil e uma noites/Arabian Nights) – Portugal, Frankreich, Deutschland 2015 – Laufzeit: 381 Minuten – FSK: ab 12 Jahre – Kinostart(D): 28.07.2016 – Regie: Miguel Gomes – Drehbuch: Telmo Churro, Miguel Gomes, Mariana Ricardo – Produktion: Sandro Aguilar – Kamera: Sayombhu Mukdeeprom – Schnitt: Telmo Churro, Pedro Marques, Miguel Gómez – Darsteller: Joana de Verona, Gonçalo Waddington, Carloto Cotta, Rogério Samora, Adriano Luz, Diogo Dória, Teresa Madruga, Cristina Alfaiate, Isabel Muñoz Cardoso, Luísa Cruz, Américo Silva, Dinarte Branco, Margarida Carpinteiro, João Pedro Bénard, Maria Rueff – Verleih: Real Fiction

 

 

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