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19
It’s better to burn out than to fade away
Während japanische Regisseure
wie Takeshi Kitano (u.a. „Sonatine“, 1993; „Kikurjiros Sommer“, 1998) oder Takashi Ishii („Gonin“,
1995) einer repressiven japanischen Gesellschaft den Spiegel vorhalten, indem
sie Gewalt in ihren Film in den erschreckenden Bereich einer über allem
schwebenden Normalität rücken, versucht Kazushi Watanabe einen ganz
anderen Weg. Sein jetzt in wenigen hiesigen Kinos laufender Film über eine
Gruppe drei junger Männer, die offenbar grundlos einen Studenten entführen,
vermeidet nicht nur weitgehend die Mainstream-Ingredienzien des japanischen
Kinos – ein Anliegen, das Watanabe selbst artikuliert –, sondern verzichtet
auch weitgehend auf blutrünstige Szenarien (bis auf eine im Verhältnis
zu Kitanos Filmen fast harmlos erscheinende Ausnahme). „19“, ein Titel, der
auf das Alter der Figuren bezogen ist, ist in gewisser Hinsicht eine Art Experimentalfilm,
aber nichtsdestoweniger ein „vollkommener“, will sagen, fertiger Film.
Watanabe taucht die Welt, die
er zeigt, in eine Art Sinnleere, die sich vom Anfang bis zur Schlussszene des
Films spannt. Die Geschichte selbst beruht auf einem Ereignis, das ein Freund
Watanabes selbst erlebte. Er wurde von drei Männer entführt, eine
Zeitlang festgehalten und dann ohne ersichtlichen Grund wieder freigelassen.
Die Ereignisse zwischen Entführung und Freilassung hat Watanabe weitgehend
erfunden. Aber wie in der Realität verschwinden auch im Film die drei Entführer
spurlos, als wenn sie aus dem Nichts aufgetaucht und wieder in ein Nichts entschwunden
wären. Die Namenlosigkeit der Entführer – sie wurden für den
Film mit Städtenamen belegt, im Film selbst aber haben sie keine Namen
– entspricht der Anonymität und Bedeutungslosigkeit dessen, was geschieht,
dem moralischen Vakuum, in dem sie sich befinden, und der Leere an Leben, die
die Ereignisse repräsentieren.
I N H A L T
Unter Führung von Yokohama,
den Watanabe selbst spielt, entführen er, sein schweigsamer Fahrer Kobe
(Ryo Shinmyo) und Chiba (Takeo Noro), der gerne fotografiert – die beiden letzteren
Mimen sind Freunde Watanabes und Laienschauspieler – ohne ersichtlichen Grund
den Studenten Usami (Daijiro Kawaoka). Sie zerren ihn von seinem Motorrad herunter
in ihr gestohlenes Auto. Usami hat verständlicherweise Angst, versucht
zweimal zu entkommen, was ihm aber nicht gelingt, und findet sich dann mit seinem
Schicksal mehr oder weniger ab. Es beginnt eine Mischung aus Road-Movie, Kriminalfilm
und Familienausflug. Die vier tanken, kaufen in Supermärkten ein, gehen
essen, besuchen den Zoo, schlagen einen Passanten nieder um an Geld zu kommen.
Chiba fotografiert einzelne Stationen dieser Reise. Schließlich landen
sie am Meer – wie so viele Road-Movies. Dort bringen die drei ein weiteres Opfer,
Happy (Masahi Endo), in ihre Gewalt, wieder ohne ersichtlichen Grund. Happy
versucht, sich mit Usami zu verbünden, schlägt Yokohama nieder, wird
aber von Chiba überwältigt und landet auf dem Rücksitz des Autos.
Usami wird mit Handschellen an das Auto gefesselt. Als Happy ihn vom Rücksitz
aus angreift, wahrscheinlich weil er denkt, Usami habe ihn nicht ausreichend
unterstützt, kommt es zu einer Katastrophe, die aber letztlich niemanden
weiter berührt …
I
N S Z E N I E R U N G
Watanabe hat – in der Postproduktion
– den Film visuell verfremdet. Die ausgewaschenen, ausgebleichten Bilder, vor
deren Hintergrund ab und zu eine einzelne Farbe hervorsticht, entstanden durch
digitale Bearbeitung und mehrfache Materialtransfers. Der auf Super-16mm gedrehte
Film wurde in der Nachbearbeitung auf NTSC [1] ausgespielt und anschließend
auf 35mm-Film übertragen. „Ich habe einen bestimmten Ton, eine bestimmte
Stimmung gesucht, die zur Geschichte passt“, berichtet Watanabe. „Dafür
haben wir in der Postproduktion viel ausprobiert, was oft eine unsichere, manchmal
wirklich experimentelle Arbeit war. Aber im Endeffekt, glaube ich, haben wir
diesen Ton gefunden.“ Das Ergebnis ist tatsächlich ein visueller Eindruck,
dessen verblichene Bilder eine Distanz aufbauen, die der inhaltlichen Leere
des Geschehens entspricht. Die einzelnen hervorstechenden Farben wirken wie
mehr oder weniger dünne Verbindungslinien, durch die der Film, das Geschehen
eine Verbindung zum Betrachter aufzunehmen versucht. Unterstützt wird dieser
Eindruck durch die Musik von Knockers Records, eine Mischung aus Hard Rock und
psychedelischen Elementen.
Diese Distanz wird aber nicht
nur durch die einzeln hervorgehobenen Farben immer wieder durchbrochen. Auch
die Handlung selbst enthält Elemente von Nähe. Die banalen Verrichtungen
der drei Entführer und ihres Opfers, einkaufen, essen im Restaurant, Zoo-Besuch
usw. korrespondieren mit eigenen Erfahrungen, wobei dieser Draht, die Möglichkeit
der Entstehung von Wärme und Hautnähe, sogleich wieder durchtrennt
wird durch die Sinnlosigkeit der Handlung.
So entsteht ein Wechselbad, in
dem sich nur schwer zurechtzufinden ist. Entsprechend handeln die Entführer.
Yokohama und Chiba verhalten sich gegenüber ihrem Opfer Usami mal brutal,
mal jovial. Kobe, der im ganzen Film kein einziges Wort spricht, repräsentiert
die Kälte an sich. Alle drei Entführer erinnern in ihrem Verhalten
an „normale“ Entführer, wie man sie aus anderen Filmen kennt, durch die
Sinn- und Ziellosigkeit ihrer Handlungen wirken sie jedoch zugleich wie leere
Hülsen, die lediglich die äußere Form filmischer „Vorbilder“
repräsentieren. Innerhalb dieser Hülse aber „enthüllen“ sich
drei zutiefst menschliche Charaktere: ein psychopathischer Fahrer, der zu allem
bereit ist, ein egozentrischer, eitler, selbstgefälliger Anführer
und ein devoter Chiba, der glaubt, zum Zentrum der durch die Gruppe ausgeübten
Macht zu gehören. Dazwischen bewegt sich der angsterfüllte junge Student,
der anfangs an nichts anderes denkt, als der Gruppe zu entkommen, am Schluss
nicht versteht, warum sie ihn freilassen.
Die Dialoge offenbaren die entleerte
Revolte einer Jugend, die in ihrer Rebellion die Mechanismen dessen, wogegen
sie angeht, selbst immer wieder reproduziert. Die Revolte verkommt zum Spiegelbild
einer konsumorientierten, gewalttätigen und bedeutungslosen Pseudo-Rebellion.
Ein Beispiel, ein Dialog zwischen Yokohama und Chiba: „Wenn man so schnell ist
wie das Licht, hört die Zeit auf.“ „Was soll das?“ „Je schneller man sich
bewegt, desto langsamer vergeht die Zeit. Einstein hat das gesagt.“ „Das heißt,
wir leben lange, wird sind immer in Bewegung.“ „Wir sterben jung. Wir leben
ungesund.“ Die Aussage Einsteins über Zeit hat keine lebenspraktische Bedeutung,
weder für die drei Entführer, noch für sonst jemanden. Die Schlussfolgerung,
man würde länger leben, weil man laufend Auto fahre und sich schnell
fortbewege, ist absurd, eine Verballhornung einer physikalischen Aussage. Chiba
führt die Bedeutungslosigkeit dieses Dialogs am Schluss selbst vor. Die
drei leben ungesund, rauchen, essen Fast Food und Dosenfutter usw.
Auch an einer anderen Stelle wird
dies vorexerziert: „Zwei Leute fallen von einer Klippe, Leute, die dir wichtig
sind, deine Liebste, ein Freund, Eltern … Es sind zwei, aber du kannst nur
einen retten. Für wen entscheidest du dich.“ „Egal, irgendeinen, und dann
…“ „Dann?“ „Dann würde ich springen. Ich würde den einen retten
und mit dem anderen sterben. Dann wäre ich nicht allein.“ Der Tod ist bereits
im Leben der drei Entführer angelangt. Es ist nicht nur völlig unwichtig,
einen zu retten und am leben zu bleiben. Nur im Tod mit dem anderen erfüllt
sich das Leben. Eine bedrückende, aber den ganzen Film charakterisierende
Aussage.
F A Z I T
Die drei Entführer schlagen
die Zeit tot. Jeglicher Sinn, jegliche Bedeutung ist in ihrem Leben abhanden
gekommen. Die Figuren wirken wie Kopien von Menschen. Die Ein-Dollar-Note, die
Yokohama Usami nach dessen Freilassung am Schluss überreicht, hat ebensowenig
Bedeutung. Er bezahlt ihn nicht, entschädigt ihn nicht, die Übergabe
ist sinnlos, zwecklos, sie steht für nichts und niemanden. „19“ ist ein
japanischer Film und könnte dennoch an fast jedem anderen Ort dieser Welt
spielen. Er spiegelt die Beliebigkeit einer Gesellschaft, die nur noch funktioniert,
aber nicht mehr lebt. Ein experimenteller Film, der mal wieder wie so oft abseits
der großen Kinos läuft (Verleiher: Piffl Medien).
Wertung: 10 von 10 Punkten.
Ulrich Behrens
[1]„Das
NTSC-System (NTSC=National Television System Comitee = ‘Nationaler Fernsehsystem-Ausschuss’
der USA) setzte sich seit Ende 1953 in Nordamerika und in Japan durch. Bei diesem
System werden die drei Farbauszüge in der Fernsehkamera mit Hilfe von Filtern
und drei Aufnahmeröhren gewonnen und in elektrische Signale umgewandelt.
Im Farbfernsehgerät steuern die drei Farbauszugsignale je einen der drei
Elektronenstrahlen einer Farbbildröhre. Diese sind so ausgerichtet, dass
ihre Strahlen gemeinsam durch eines der 357 000 Löcher einer Lochmaske
(Schattenmaske) auf eine Dreiergruppe von rot, grün und blau aufleuchtenden
Phosphorscheibchen fallen. Die Phosphorscheibchen sind so klein, dass sie vom
Auge nicht einzeln wahrgenommen werden. Durch additive Mischung der drei Grundfarben
entsteht der farbige Bildeindruck.“
(Quelle:
http://www.ewetel.net/~henning.tietgens/digitv/node9.html).
Dieser Text
ist zuerst erschienen bei:
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
19
(19)
(Original mit dt. Untertiteln)
Japan 2000, 82 Minuten
Regie: Kazushi Watanabe
Drehbuch: Kazushi Watanabe
Musik: Knockers Records, Octabeer, Reggae Disco Rockers
Kamera: Masakazu Oka
Schnitt: Yoshio Sugano, Kazushi Watanabe
Hauptdarsteller: Daijiro Kawaoka (Usami), Kazushi Watanabe (Yokohama),
Takeo Noro (Chiba), Ryo Shinmyo (Kobe), Masahi Endo (Happy), Nachi Nozawa (Polizist)
DVD
Disc Type: DVD 5
Sprache: Japanisch
UT: Deutsch, Englisch, Französisch
Bildformat: 4:3
Ländercode: 2
Laufzeit 82 min + 12 min Bonus
Version: PAL
Bonusmaterial: Trailer, Interview mit dem Regisseur Kazushi Watanabe,
Ausführliches Booklet
erhältlich bei:
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