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2001: Odyssee im Weltraum

 

 

3 x 7 = 2001

Über das Unaussprechliche in Stanley Kubricks

"Odyssee im Weltraum"

 

 

 

 

Im Anfang war das Bild

 

Während die Anfangstakte von Richard Strauss’ "Also sprach Zarathustra" erklingen, gleitet der Mond wie von Zauberhand langsam nach unten und gibt so die Sicht auf die im gleißenden Sonnenlicht erstrahlende Erde frei. Diesem außerirdischen Blick folgt eine Abblende und dann fängt mit der einset­zenden Aufblende der erste Teil von "2001: Odyssee im Weltraum" an.

In der ersten Sequenz wird dem Zuschauer eine öde, scheinbar nur vom einsamen Heulen des Windes belebte Urlandschaft vor Augen geführt. Dann tauchen die ‘Bewohner’ auf: In einer Folge unterschiedli­cher Einstellungen sieht man, wie Menschenaffen und Tapire friedlich nebeneinander leben und sich die spärlich vorhandenen Blätter und Wurzeln gegenseitig abspenstig machen. Am Ende der Sequenz fällt ein Leopard über einen der wehrlosen Affen her. Abblende.

Aufblende. Während die Menschenaffen an einem Wasserloch ihren Durst löschen, schleicht sich von hinten behutsam ein anderer Stamm Affen heran, der die am Wasser sitzenden Rivalen mit Grunz- und Brüllauten vertreibt. Abblende.

Aufblende. Es ist Nacht. Die Menschenaffen sitzen, von Angst und Hunger gekennzeichnet, in ihrem Unterschlupf und lauschen gespannt dem Grollen des gefährlichen Leoparden. Anschließend zeigt Ku­brick in einer stimmungsvollen Totalen den rötlichen Himmel mit abnehmendem sichelförmigem Mond. Abblende.

Aufblende. Ein erwachender Affe erblickt einen geheimnisvollen schwarzen Quader, woraufhin er seine Artgenossen lauthals aus dem Schlafe reißt. Aufgeregt aus ihrem Unterschlupf stömend, wagen sie sich allmählich immer näher an das fremde Gebilde heran, bis schließlich der kühnste Menschenaffe, nämlich Mond-Schauer,[1] die Kante des schwarzen Blockes mit seiner Hand berührt. Gegen Ende der Sequenz betasten die Affen voller Ehrfurcht den Quader. Unmittelbar darauf folgt eine kurze Einstel­lung, in der in einer extremen Unterperspektive der schwarze Quader, die Sonne und der sichelförmige Mond hintereinander aufgereiht sind. Bei dieser Konjunktions-Einstellung handelt es sich um einen weiträumigen Gegenschuss, der nahtlos an die erste Einstellung des Films anschließt und somit einen Zu­sammenhang zwischen dem außerirdischen Blick und dem schwarzen Quader herstellt.

Drei totale Einstellungen, in denen die Urlandschaft zu sehen ist, trennen die vierte von der fünften Sequenz. Nach dieser Zäsur geht es folgendermaßen weiter:


(1) Totale: Großer, von Felsen umrandeter Platz, auf dem ausgeblichene Skelette liegen

 Sechs Affen suchen nach Nahrung; Mond-Schauer kommt von rechts ins Bild und steigt über ein Skelett/

(2) Nahaufnahme: Mond-Schauer vor dem Skelett
Er wühlt im Sand, hält plötzlich inne, hebt seinen Kopf und verharrt mit schräger Kopfstellung/

(3) Konjunktions-Einstellung
In einer extremen Unterperspektive sind der schwarze Quader, die Sonne und der sichelförmige Mond hintereinander aufgereiht/

(4) Nahaufnahme: Mond-Schauer vor dem Skelett
Intensiv auf das Skelett starrend, bewegt er des öfteren seinen Kopf hin und her; dann nähert er sich dem Skelett, nimmt einen Knochen in die Hand und schlägt damit zunächst locker, dann immer weiter ausholend, auf das Skelett ein/

(5) Großaufnahme: Bewölkter Himmel
Der mit dem Knochen bewaffnete Arm schiebt sich von unten ins Bild, verharrt kurz und bewegt sich abwärts/

(6) Nahaufnahme (leichte Unterperspektive): Mond-Schauer (aufgebäumt)
Er schlägt voller Ekstase auf den Knochenhaufen ein, und schließlich zertrümmert er den Skelett­schädel/

(7) Großaufnahme: Tapir
Er stürzt schwerfällig zu Boden

(8) Großaufnahme: Mondschauers Gesicht
Mit geiferndem, weit aufgerissenem Mund holt er erneut zum Schlag aus/

(9) Großaufnahme: Bewölkter Himmel
Der bewafftnete Arm gleitet von unten ins Bild und saust wieder voller Schwung nach unten/

(10) Großaufnahme: Skelettschädel
Der Knochen prallt auf den leicht zertrümmerten Schädel/

(11) Großaufnahme: Bewaffneter Arm
Er bewegt sich schwungvoll abwärts/

(12) bis (19) Extrem kurz hintereinandergeschnittene Großaufnahmen halten achtmal den Moment fest, als der Knochen Skelettteile zertrümmert/

(20) Großaufnahme: Beine eines Tapirs
Er bricht mit einknickenden Beinen zusammen/

(21) Nahaufnahme (leichte Unterperspektive): Mond-Schauer
Er schleudert einzelne Skelettteile über sich hinweg/

 

In dieser genialen Sequenz gibt es drei Zwischenschnitte (3, 7, 20), die dem Zuschauer Mond-Schauers Innenleben vor Augen führen. In der Einstellung (2) hält der Affe plötzlich inne und verharrt mit schräg geneigtem Kopf – eine Verhaltensweise, die intensives Nachdenken andeutet. Es scheint ihm ein eigenar­tiger Gedanke in den Kopf geschossen zu sein, der mit der Berührung des schwarzen Quaders zusam­men­hängen muss, denn der anschließende Zwischenschnitt (3) zeigt exakt dieselbe Konjunktions-Ein­stellung wie am Ende der vierten Sequenz. In der nächsten Einstellung nimmt der vage Gedanke in Mond-Schauers rudimentärem Bewusstsein allmählich konkrete Gestalt an: Gebannt auf das vor ihm liegende Skelett starrend, bewegt er grübelnd seinen Kopf hin und her, so als könne er sich mit dem Einfall noch nicht recht anfreunden; dann nähert er sich dem Skelett, ergreift einen Knochen und schlägt damit unmotiviert und spielerisch auf den Knochenhaufen ein; auf einmal jedoch wird er sich schlagartig bewusst, dass er den Knochen als Waffe benutzen kann, woraufhin er immer heftiger auf das Skelett eindrischt (Ende von 4, 5), bis er schließlich – auf dem Höhepunkt seiner Ekstase – den Schädel zertrüm­mert (Ende von 6). Um das Rauschhafte dieses Vorgangs zu unterstreichen, werden die Augenblicke festgehalten, in denen der Knochen Skeletteile zertrümmert (12 bis 19). Danach schneidet Kubrick auf die einknickenden Beine eines Tapirs (20), und schließlich endet die Sequenz mit einer Nahaufnahme des triumphierenden Affen, der voller Begeisterung Skeletteile über sich hinwegschleudert (21).

Dank der beiden Zwischenschnitte (7) und (20) muss Kubrick in der nächsten Sequenz nicht darstel­len, wie Tapire getötet werden, sondern er kann seinem Publikum sofort fleischfressende Affen zeigen.

In der siebten Sequenz erschlägt Mond-Schauer am Wasserloch seinen hilflosen Rivalen und wirft voller Siegesfreude seinen Knochen in die Luft. Es folgt in Zeitlupe eine Großaufnahme des fliegenden Knochens, der sich während der Abwärtsbewegung in ein im Weltraum gleitendes Raumschiff verwan­delt. Mit diesem verblüffenden Schnitt endet der erste Teil.

Die einzelnen Sequenzen lassen sich folgendermaßen aufschlüsseln:

(1)  AUFBLENDE
AUFBRUCH DER MENSCHHEIT
– Trostlose, nur vom Heulen des Windes belebte Urlandschaft
– Plötzliches Erscheinen der ‘Bewohner’
– Mühsame Nahrungssuche
– Bedrohung durch den Leoparden
ABBLENDE

(2)  AUFBLENDE
– Friedliche Vertreibung vom Wasserloch
ABBLENDE

(3)  AUFBLENDE
– Wachsam und ängstlich lauschen die Affen in die Nacht hinaus
– Etwas Wunderbares bahnt sich an
ABBLENDE

(4)  AUFBLENDE
– Ein schwarzer Quader versetzt die Affen in Aufregung
– Ehrfurchtsvolles Berühren
– Konjunktions-Einstellung

ZÄSUR (drei totale Einstellungen zeigen die Urlandschaft)

(5)  – Sechs Affen suchen nach Nahrung
– Mond-Schauer kommt von rechts ins Bild
– Er drischt mit einem Knochen auf ein Skelett ein

(6)  – Fleischfressende Affen
– Der Nachwuchs untersucht einen Knochen
– Der Quader ist verschwunden

(7)  – Mond-Schauer erschlägt mit einem Knochen seinen hilflosen Artgenossen
– Er schleudert den Knochen in die Luft
– Fliegender Knochen

 


 

Das Gottes-Konzept

 

I will say that the God concept is at the heart of 2001

STANLEY KUBRICK

 

Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.

LUDWIG WITTGENSTEIN

 

Nimmt man den formalen Aufbau des ersten Teils unter die Lupe, so fällt auf, dass der "Aufbruch der Menschheit" eine arithmetische Mitte hat, nämlich jene Sequenz, in der sich der geheimnisvolle schwarze Quader offenbart. Vor und nach dieser Sequenz gibt es je drei Sequenzen, die sich durch fol­gendes filmisches Merkmal voneinander unterscheiden: Während die ersten drei Sequenzen jeweils durch eine Auf- und Abblende eingerahmt sind, gehen die letzten drei Sequenzen mittels eines Schnittes abrupt ineinander über. Hinzu kommt noch, dass die letzten drei Sequenzen durch drei totale Einstellun­gen, die keine sinntragende Funktion haben und deshalb als Zäsur fungieren, von der vierten Sequenz getrennt werden. Bereits im formalen Aufbau dieses Teils zeigt sich also die Zahl drei, die im Laufe des Films in allen nur erdenklichen Variationen in Erscheinung tritt:

·       In der ersten Einstellung des Films werden die drei Planeten Mond, Erde und Sonne hintereinander aufgereiht.

·       Dreimal erscheint im Film die Konjunktions-Einstellung, in der sich ja bereits die Zahl drei zeigt.

·       Die 18 Stimmenerkennungsdienst-Terminals der Orbitalstation sind zu je drei Einheiten zusammen­ge­fasst und haben drei Durchgänge.

·       Im zweiten Teil sind drei komplizierte Landemanöver zu sehen.

·       Der Zuschauer erlebt drei Geburtstage (Floyds Tochter, Poole, das Neugeborene am Ende des Films).

·       Dreimal gleitet die Discovery an der Kamera vorbei.

·       Die Besatzung der Discovery besteht aus drei aktiven (HAL, Poole, Bowman) und drei passiven Mitgliedern.

·       Der Kopf der Discovery birgt drei Raumgondeln in sich.

·       Obwohl die Besatzung der Discovery aus fünf Menschen besteht, sind nur drei Raumanzüge zu se­hen.

·       Die AE-35-Einheit, die sich aus drei Parabolantennen zusammensetzt, fällt angeblich in 72 Stunden aus, also in drei Tagen.

·       HAL trägt in seinem Emblem drei Nullen (die Bodenkontrolle bezeichnet ihn als "neun-dreimal-null-Bordcomputer").

·       Bevor sich Bowman in die Notluftschleuse sprengt, drückt er zuerst drei Knöpfe und betätigt dann drei Schalter.

·       Dreimal tritt Bowman seiner gealterten Inkarnation gegenüber.

·       Im Badezimmer hängen zwischen Waschbecken und Badewanne drei Handtücher.

·       Drei biblische Gebote kommen im Laufe des Films zum Vorschein:

– Du sollst nicht töten.

– Du sollst Dir kein Bildnis machen.

– Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.

·       Der letzte Teil besteht aus drei Sequenzen.

·       In der letzten Szene sind drei Planeten (Mond, Erde, überdimensionales Neugeborenes) zu sehen.

Die Zahl drei entspricht nicht nur jenen drei Dimensionen, die Stanley Kubricks Kameramann auf der zweidimensionalen Leinwand sehr beeindruckend vor Augen führt, sondern sie verweist auch auf die Dreifaltigkeit. Der Kamera-Blick zu Beginn des Films kann also folgendermaßen gedeutet werden: Gott blickt auf die verfinsterte Erde. "Und Gott sprach: Es werde Licht!", steht in der Bibel geschrieben, "und es ward Licht." Genau dies geschieht während der ersten Einstellung von "2001: Odyssee im Welt­raum"!

Doch damit nicht genug. Gott erschuf die Erde in sieben Tagen – Kubrick erschuf den ersten Teil seines Films in sieben Sequenzen. Die göttliche Zahl sieben zeigt sich darüber hinaus in folgenden Va­riationen:

·       In der letzten Einstellung der ersten Sequenz fällt ein Leopard über einen der sieben Menschenaffen her.

·       In der ersten Einstellung der fünften Sequenz kommt Mond-Schauer als siebter Affe (im Hinter­grund suchen sechs Affen nach Nahrung) genau an der Stelle ins Bild, wo der Leopard zuvor den siebten Affen ‘weggenommen’ hat.

·       In der Schlusssequenz des zweiten Teils schreiten sechs vermummte Gestalten, die zusammen mit dem geheimnisvollen schwarzen Quader die Zahl sieben ergeben, zur Ausgrabungsstätte hinab.[2]

·       Die Raumhelme haben auf ihrer Rückseite sieben Reflektoren.

·       Während Poole die Geburtstagsgrüße seiner Eltern entgegennimmt, leuchten unten rechts neben dem Bildschirm genau sieben der 12 Segmente.

·       Gegen Ende der ersten Sequenz des vierten Teils mischt sich der im All schwebende Quader als siebtes ‘Glied’ unter sechs vertikal aufgereihte Planeten und dreht der Kamera seine schmale Längs­seite zu, so dass sich für einen Augen-Blick ein Kreuz zeigt.

·       In der zweiten Sequenz des vierten Teils erscheinen sieben schillernde Gebilde.

3 x 7 = 21. In der aus 21 Einstellungen bestehenden fünften Sequenz des ersten Teils liegen die bei­den entscheidenden Zwischenschnitte (Konjunktions-Einstellung – zusammenbrechender Tapir) genau auf jenen beiden Zahlen, deren mystische Bedeutung offensichtlich geworden sein dürfte. Mond-Schau­ers Gedankenblitz (7) muss also als göttliche Eingebung verstanden werden, zumal sich in der ehr­furchtsvollen Konjunktions-Einstellung (3) das Unaussprechliche zeigt.

Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass der geheimnisvolle schwarze Quader nicht nur mit den Zahlen drei und sieben, sondern auch noch mit der vier in Zusammenhang gebracht wird:

·       Beim ersten Mal offenbart er sich in der vierten Sequenz.

·       Insgesamt erscheint er viermal.

·       Er ist vier Millionen Jahre alt.

Damit deutet Kubrick an, dass der Artefakt als Tor zu einer anderen Dimension fungiert, die jenseits un­serer empirischen Realität liegt. Deshalb ragt der Quader in der Konjunktions-Einstellung aus dem Bild heraus.

 

 

 

Leib und Seele

 

Es ist auffallend, dass Kubrick die Rollen von Poole und Bowman mit physisch und physiognomisch sehr ähnlichen Schauspielern besetzt hat, die, wenn sie die gleiche Kleidung tragen, in den Totalen fast nicht zu unterscheiden sind. Die beiden Astronauten sind überhaupt keine verschiedenen Personen, son­dern sie fungieren als Sinnbilder für den Leib und die Seele des Menschen! Diese Interpretation lässt sich durch folgende Indizien erhärten:

·       Die beiden Schauspieler werden auf ziemlich ungewöhnliche Art und Weise filmisch eingeführt: Während Poole in der rotierenden Zentrifuge seinen Körper mit Dauerlauf und Schattenboxen fit hält, wird Bowman nicht unmittelbar vor Augen geführt, sondern er erscheint lediglich als rotierende Reflexion in HALs Auge.

·       In fast allen Szenen verhalten sich die beiden so, als würde der andere überhaupt nicht existieren.[3]

·       In den ersten Einstellungen, die die beiden Astronauten zusammen zeigen, werden sie als Spiegelbil­der in Szene gesetzt: Poole isst, links sitzend mit der linken Hand (der Trinkbecher steht auf der lin­ken Seite seines Tablettes) – Bowman isst, rechts sitzend mit der rechten Hand (der Trinkbecher steht auf der rechten Seite seines Tablettes).

·       Sind die beiden symmetrisch vor der Kamera angeordnet, dann nimmt Poole die linke und Bowman die rechte Bildhälfte ein; ist die Inszenierung asymmetrisch, dann werden die beiden Schauspieler an den Bildrändern von identischen Gegenständen eingerahmt. Wird nur ein Darsteller gezeigt, dann ‘entdeckt’ die Kamera den anderen, oder eine Leerstelle verweist überdeutlich auf die fehlende ‘Hälfte’.

·       Poole trägt seinen Haarscheitel rechts – Bowman trägt seinen Haarscheitel links.

·       Poole erteilt in dem BBC-Interview Auskünfte über jene drei Besatzungsmitglieder, deren seelenlose Körper[4] in Tiefkühlsärgen dem physischen Tod entgegenschlafen – Bowman äußert sich über HALs menschliche Gefühle.

·       Als Bowman seines Leibes (Pooles) beraubt wird, kommen bei ihm zum ersten Mal äußerlich er­kennbare innere Reaktionen zum Vorschein (überhastetes Verlassen des Kommandodecks, seine Stimme nimmt einen scharfen Ton an, vor Aufregung vergisst er seinen roten Raumhelm).

·       Als Bowman der direkte Zugang zum Raumschiff verweigert wird, stößt er Poole in den Weltraum hinaus und blickt ihm durch das Gondelfenster traurig nach: Die Seele trennt sich von ihrem Leib![5]

·       Bowman löst HALs psychische Krise aus und entlarvt (am Ende des drittenTeils) den beseelten, auf menschliches Verhalten programmierten Computer[6] als bloße Maschine.

Stanley Kubrick hat also deshalb seine beiden Schauspieler jeglicher Individualität und Identität entklei­det, weil er mit seinem Raumschiff Discovery einen metaphysisch-mystischen Kurs steuert.

 


 

Jenseits der empirischen Realität

 

Those who won’t believe their eyes won’t be able to appreciate this film.

STANLEY KUBRICK

 

Bevor ich mich dem vierten Teil zu nähern versuche, müssen die drei Sequenzen dieses raffiniert aufgebauten filmischen Labyrinths klar voneinander getrennt werden.

(1)  AUFBLENDE
– Jupiter mit seinen Monden
– Erscheinen des Quaders
– Aus dem Fluchtpunkt rasen farbige Lichblitze auf die Bildränder zu
– Bowmans Augen schließen sich
– Lichtkorridor

(2)  [1] Großaufnahme eines eingefärbten Auges

     [2] Zerfließende abstrakte Formen

     [3] Eingefärbtes Auge

     [4] Schillernde Gebilde

     [5] Eingefärbtes Auge

     [6] // unbeschreibbar //

     [7] Eingefärbtes Auge

     [8] Flug über farblich verfremdete Landschaften, die an die Erde erinnern

     [9] Das eingefärbte Auge wird fleischfarben

(3)  – Die Kamera ‘blickt’ durch das ovale Gondelfenster in einen geheimnisvollen Raum
– Bowmans Augen stieren extrem nach oben, seine Atemgeräusche kehren wieder
– Das Neugeborene wird von der Kamera aus dem ausweglosen Raum befreit
– Es blickt mit staunenden, weit aufgerissenen Augen in die Kamera
ABBLENDE

Wer der Ansicht ist, Bowman würde tatsächlich den Jupiter erreichen und dort mit der einzig verblei­benden Raumgondel durch das Weltall rasen, den sollen die folgenden markanten Ungereimtheiten auf eine andere Fährte locken: Die mittlere der drei Raumgondeln wird sowohl "B-Gondel" als auch "C-Gondel" genannt; in der mittleren Gondel wähnen sich die beiden Astronauten trotz des auffälligen Um­standes, dass das Auge des Computers durch das ovale Gondel­fenster starrt, vor HALs Allgegenwart in Sicherheit; mit der mittleren Raumgondel wird Poole getötet; und mit der mittleren Raumgondel verlässt Bowman gegen Ende der ersten Sequenz die Discovery! Mit diesem absichtlichen Anschlussfehler gibt der Perfektionist Stanley Kubrick augenzwinkernd zu verstehen, dass der vierte Gondeleinsatz kein realer, sondern ein metaphysischer Akt ist.

Auch in der geheimnisumwobenen Schlusssequenz lockt der Regisseur sein Publikum in tote Gänge seines Labyrinths. Wohin der Zuschauer in dem ausweglosen Zimmer auch blicken mag, werden sich ihm lediglich solche Sinnschichten und Themen erschließen, die Kubrick bereits in den drei vorange­gangenen Teilen ‘ausgesprochen’ hat:

·       Bedeutungslosigkeit der Sprache,

·       Spiegelbilder (Bowman betrachtet sich intensiv im Spiegel; der Quader wird von spiegelbildlichen Statuen flankiert),

·       Blindheit (als sich Bowman nach dem Bett umdreht, kneift er auffällig seine Augen zusammen),

·       Konfrontation mit dem physischen Tod,

·       die Bilder (Gemälde) in den fensterartigen Nischen verstellen den Blick nach ‘draußen’ (Du sollst dir kein Bildnis machen!),

·       der von unten beleuchtete Raum sowie Bowmans Inkarnationen verweisen auf Kubricks metaphy­sisch-mystische Intention,

·       beim vierten Erscheinen des geheimnisvollen schwarzen Quaders zeigen sich die Zahlen drei und sie­ben.

Stanley Kubrick hat des Rätsels Lösung also weder in der dritten noch in der ersten Sequenz versteckt, sondern in der mittleren der drei Sequenzen. Übrigens: Mystik (vom griechischen myein – übersetzt: die Augen schließen) beruht auf der Verneinung der Sinneswelt und besteht in einer rauschhaften, unbe­wussten Vereinigung der Seele mit dem Göttlichen …

 

 

7  Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.[7]

 

Armin Klumpp


Anmerkungen

[1] Obwohl der Affe im Film namenlos bleibt (nur der Nachspann verweist auf seinen Namen), nenne ich ihn der Einfach­heit halber "Mond-Schauer".

[2] Im Laufe dieser erhabenen Szene bringt Stanley Kubrick das biblische Gebot "Du sollst Dir kein Bildnis machen." zum Ausdruck.

[3] Sie nehmen nur zweimal Blickkontakt auf und reden ein einziges (und letztes) Mal miteinander.

[4] Auf die Frage, wie man sich im Dauerschlaf fühle, gibt Poole folgende Antwort: "Es ist so als ob man schläft. Man hat kein Zeitgefühl mehr. Der subjektive Unterschied zum normalen Schlaf besteht bloß darin, dass man nicht träumt." Die drei Kälteschläfer haben also keine Seele, denn gerade im Traum spielt sich das Seelenleben des Menschen ab. Dass die Kälteschläfer seelenlos sind, kommt auch filmisch zum Ausdruck: Als HAL Bowmans Skizzen der Kälteschläfer be­trachtet, hält Bowman den Zeichenblock näher an HALs Auge, so dass die linke Leinwandseite mit Pooles leerem Stuhl auffällig von den Zeichnungen verdeckt wird.

[5] Jetzt dürfte auch verständlich sein, weshalb Bowman ohne seinen Raumhelm das Vakuum der Notluftschleuse unbe­schadet übersteht. Außerdem deutet Kubrick durch folgende Eigentümlichkeiten an, dass sein Astronaut bereits phy­sisch tot ist: Bowman betritt die nächste Szene nicht etwa durch eine Tür, sondern er erscheint mittels Überblendung wie ein Geist im Bild. Obwohl der allmächtige Computer über sämtliche Systeme des Raumschiffes verfügt, öffnen sich für Bowman die Türen.

[6] Auch HAL besitzt eine physische ‘Hälfte’, nämlich den irdischen HAL-9000-Zwillingscomputer, der nur aus dem Grund unfehlbar ist, weil ihm keine Seele eingehaucht wurde.

[7] In diesem berühmten Schlusssatz aus Ludwig Wittgensteins "Tractatus-logico-philosophicus" zeigt sich insgesamt dreimal die göttliche Zahl sieben

 

Zu diesem Film gibts im filmzentralen-archiv mehrere Kritiken

 

2001: Odyssee im Weltraum

2001: A Space Odyssey

Großbritannien 1968, Regie: Stanley Kubrick, Buch: Stanley Kubrick und Arthur C. Clarke, Kamera: Geoffrey Unsworth und John Alcott, Musik: Aram Khatschaturian, Richard Strauss, Johann Strauß und György Ligeti, Produzent: Stanley Kubrick. Mit: Keir Dullea, Gary Lockwood, William Sylvester, Leonard Rossiter, Daniel Richter, Robert Beatty, Margaret Tyzack, Sean Sullivan, Frank Miller.

 

 

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