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10 vor 11

 

 

Einfach nur gemeinsam Geduld mit ihren zwei männlichen Protagonisten Mithat und Ali hat Pelin Esmer in "10 vor 11".

Zwei einsame Männer in zwei Wohungen. Herr Mithat, ein Rentner, bewohnt alleine eine kleine Wohnung in einem Mietshaus, außer gelegentlichen besorgten Anrufen und Pflichtbesuchen von Verwandten pflegt er wenig sozialen Kontakt. Ali, der Hausmeister des Gebäudes, ist in der feuchten Kellerwohnung untergekommen, seine Tochter ist dort krank geworden und mit ihrer Mutter zurückgekehrt aufs Dorf, zu den Schwiegereltern.

Mithats Wohnung ist vollgestopft mit dem, was er seine Sammlung nennt; seine wenigen Besucher sehen darin eher ein Krankheitsbild: Zeitungsstapel bis fast unter die Decke, kistenweise Bücher, Alltagsgegenstände jeder Sorte und Form, teilweise jahrzehntealte Tonbandaufnahmen. Jeder Gegenstand hat seinen Ort und seine Geschichte, zumindest letztere vergisst Mithat nie. Wenn die Sammlung das erste Mal im Film auftaucht, wird sie von einer langsamen, tastenden Steady-cam-Fahrt erschlossen. Wenn Mithat dann später aber inmitten seiner Sammlung sitzt, umgeben von Materie, Zeichen und Tönen der Vergangenheit, hat die Kamera Geduld (gemeinsam) mit ihm, sie bewegt sich nicht mehr.

Als ein geschäftstüchtiger Herr Ruhin das Haus abreißen lassen will, damit an seiner Stelle ein moderner Appartementkomplex entstehen kann und deswegen Unterschriften der Mieter sammelt, ist Mithat der einzige, der sich wehrt. Ali, der in seiner karg eingerichteten Wohnung nur von Zeichen und Tönen der Gegenwart und der Abwesenheit seiner Liebsten umgeben ist und mit dem die Kamera ebenfalls (gemeinsam) Geduld hat, wird für eine Weile Mithats Helfer und Verbündeter: im neuen Appartement wäre er nicht mehr gebraucht und somit arbeitslos, jetzt hilft er dem Alten dabei, dessen Sammlung aufrecht zu erhalten und wenn möglich zu erweitern. Ali erwirbt Zeitungen, lässt alte Uhren reparieren, begibt sich auf die schier endlose Suche nach Band 11 einer vergriffenen Istanbul-Enzyklopädie.

"10 vor 11" ist der erste lange Spielfilm Pelin Esmers, einer jungen Filmemacherin, die vorher hauptsächlich dokumentarisch arbeitete. Im aktuellen Film meint man von den älteren Werken der Regisseurin noch Einiges erkennen zu können. Nicht nur zeigt sich ein dokumentarischer Impetus in kleinen, geduldigen, für die Handlung nicht unmittelbar relevanten Beobachtungen, wie beispielsweise der eines Flaschensammlers, der den Müll vor dem Mietshaus durchsucht, auch die Hauptfigur kann man als einen Dokumentaristen beschreiben, freilich als einen, dem das Sammeln und Ordnen alles ist, der an einer Darstellung und damit an einer Rückkopplung des Materials an Leben und Kommunikation aber nicht interessiert ist. Das Material allerdings lässt sich auf Dauer nicht bändigen, zumindest nicht von einem Einzelnen, die Entropie ist zu stark, zwangsläufig entstehen, sobald der Druck auf Mithat wächst, erste Lücken in der Sammlung, sie desintegriert hin auf die Umwelt, die sie in ihrem Anspruch auf Totalität eigentlich ersetzen wollte.

Das Schöne an dem Film ist, dass es ihm genügt, eine Situation zu beschreiben, dass er über diese Situation dann aber kein Urteil fällt, dass er keinem Vorwürfe macht: nicht Mithat, dessen Sammelleidenschaft einst sogar seine Ehe zerstörte; nicht Ali, der dem Alten selbstverständlich nicht ganz selbstlos hilft und der durch den Kontakt mit der Sammlung in ein komplexes Tauschverhältnis eintritt und schließlich in ihr sogar ein Karrieresprungbrett findet; auch nicht den Nachbarn, die gute Gründe haben, in einem erdbebengefährdeten Gebiet ein modernes Wohnhaus beziehen zu wollen. Stoisch, dabei aber nie aufdringlich, rahmt Esmer die Menschen, in den Außenszenen gibt es gelegentlich ein wenig Bewegung (und Raum für Überraschendes, für Zufallsbegegnungen), in den Wohnungen aber bleibt die Kamera fast immer starr und sie hält Abstand, der Bildraum wird in seiner Gänze zum Lebensraum.

"10 vor 11" ist ein kleiner Film, der nicht viel mehr will, als zwei Männern ein Stück weit auf ihrem Lebensweg zu folgen. In mancher Hinsicht teilen die beiden Hauptfiguren mit dem Film ihren leisen Eigensinn, ihre Skepsis gegenüber beflissener Gesellschaftlichkeit. Ali und Mithat schotten sich nicht ab, aber sie legen Wert darauf, von niemandem abhängig zu sein. Mihats geliebte Magnet-Taschenlampe, die ohne Batterien Licht nur durch den Druck der Hand zu erzeugen vermag, ist in diesem Sinne vielleicht das heimliche Zentrum des Films.

Lukas Foerster

Dieser Text ist zuerst erschienen im: www.perlentaucher.de

 

10 vor 11
Türkei / Frankreich / Deutschland 2009 – Originaltitel: 11’e 10 kala – Regie: Pelin Esmer – Darsteller: Nejat Isler, Mithat Esmer, Laçin Ceylan, Tayanç Ayaydin, Savas Akova – Fassung: O.m.d.U. – Länge: 110 min. – Start: 28.4.2011

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