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1984

 

 

 

Freiheit, nirgends

 

Newspeak, rewriting history, Big Brother – das sind einige der populären Fragmente der neben Huxleys Brave New World größten Dystopie des letzten Jahrhunderts. Ihrer mahnenden Bedeutung sind jene im Säurebad der Postmoderne längst verlustig gegangen: Neusprech ist heute jeder Anglizismus, Geschichte besteht nur noch aus kleinen Erzählungen und Big Brother, das ist vor allem das abendliche Vergnügen der heutigen proles. Schneller und eindrucksvoller als das Buch, welches doch so schrecklich viel Lesezeit abfordern würde, zeigt die gleichnamige Verfilmung von Nineteen Eighty-Four, wie historisch auch Dystopien sind, wohl sein müssen.

 

In Michael Radfords Adaption des 1948 erschienen Klassikers steht ein Rädchen in einem totalitären Leviathan im Fadenkreuz: Der Staat heißt Oceania, könnte aber auch einer seiner Widersacher Eurasia oder Eastasia sein, mit denen es ewigen Krieg führt. Das Rädchen ist Winston Smith (gequält: John Hurt), ein kleiner Funktionär, dessen Aufgabe es ist, Artikel alter Zeitungsausgaben der jeweils aktuellen Parteidoktrin entsprechend umzuschreiben. Smith begeht das „Gedankenverbrechen“, sich an eine Zeit vor Big Brother, der ubiquitären Führerfigur in Oceania, erinnern zu wollen. Dabei begegnet er Julia (austauschbar: Suzanne Hamilton), einer anderen Drohne; mit der Liebe zu ihr entzieht er sich der totalitären Doktrin. Parallel gerät er in einen Kreis von vermeintlichen Verschwörern, nur um zu spät zu merken, dass sein Verrat längst bekannt ist, ja gefördert wurde, um die Psyche des Widerstands zu verstehen und effizienter brechen zu können. In O’Brien (gespenstisch: Richard Burton), seinem Großinquisitor, erblickt er das individuell austauschbare, aber systemisch unüberwindliche Gesicht des totalitären Staates. Im ministry of love, „the place where there is no darkness“, wird der Einzelne schließlich in seinem letzten und innersten Refugium erfasst und vernichtet: Der freie Wille wird aufgehoben, der Parteiwille als ultima ratio eingebrannt.

 

Radfords Adaption ist weitestgehend solide ausgefallen; zwei Punkte sind erwähnenswert. Zum einen die nationalsozialistische Ästhetik, die in allen Alltagsszenen der Diktatur ins Auge springt: Die Gedankenpolizei trägt Schwarz & Stahlhelm, die Siegesmeldungen aller Art könnten aus einem Volksempfänger dröhnen, selbst die Frisuren der Statisten ähneln frappierend den Stereotypen von NS-Propagandaplakaten. Diese Verweise zeigen deutlich, in welcher historischen Zeit Orwell seine Dystopie verfasst hat. Von einer Neuverfilmung im Jahre 1984 hätte man allerdings mehr Zeitbezug erwarten können – auf der anderen Seite des Eisernen Vorhanges lebten Millionen von Menschen unter ihrem eignen Großen Bruder; hier mangelte es offensichtlich an dem Mut eines klaren „j’accuse“, welchen Orwell noch hatte. Ebenfalls bemerkenswert ist das permanente, allerdings bei Orwell bereits angelegte foreshadowing durch surrealistische Einsprengsel in die sonst so konventionell erzählte Handlung: Winston träumt, noch ehe sein Untergang sich abzeichnet, von jener harmonischen Graslandschaft, die in Wahrheit nichts anderes als der Ort ist, an dem es keine Dunkelheit gibt. Radford weist hiermit eindrucksvoller als mit seinen abgeschmackten Riefenstahl-Zitate auf den Kern aller Totalitarismen hin: Es gibt keine Freiheit, nirgends.

 

Thomas Hajduk

 

Dieser Text ist nur erschienen in der filmzentrale

Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte

 

1984

(1984)

England – 1984 – 110 min. – FSK: ab 16; feiertagsfrei – Prädikat: besonders wertvoll – Verleih: Senator – Erstaufführung: 9.11.1984 – Fd-Nummer: 24838 – Produktionsfirma: Virgin – Produktion: Simon Perry

Regie: Michael Radford

Buch: Michael Radford

Vorlage: nach einem Roman von George Orwell

Kamera: Roger Deakins

Musik: Dominic Muldowney

Schnitt: Tom Priestley

Darsteller:

John Hurt (Winston Smith)

Suzanna Hamilton (Julia)

Richard Burton (O’Brien)

Cyril Cusack (Charrington)

Phyllis Logan

Gregor Fisher (Parsons)

James Walker (Syme)

Andrew Wilde (Tillotson)

Peter Frye (Rutherford)

David Cann (Martin)

 

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