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Die
120 Tage von Bottrop
Bericht von den Dreharbeiten
Dann wurde es der freundlichen Pressechefin
von Sony doch zuviel. Wir hatten in der Baugrube am Potsdamer Platz die Helme
mit SODOM beklebt – neben dem japanischen Firmennamen. Also nein, so geht es
nicht, eins oder das andere! SODOM blieb und damit wieder ein Anschlußfehler.
Aber eben das war das System; wenn alles Gegenwart wird, sind die übrigen
Zeiten besiegt und Fehlanschlüsse keine Fehler mehr. Alexander Kluge (»Der
Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit«) hat die Bilderpräsenz
Schlingensiefs längst abgesegnet (im TV-Kulturfenster), denn die Medienrealität
versetzt zwanglos Bottrop, Pasolini und Sönke Buckmann ins Herz des neuen
Deutschlands. Ja, richtig, Sönke Buckmann heißt der Fassbinder des
neuen deutschen Films, auch Steven Hawkins genannt, genial gespielt von Ralph
Hütter, dem stark Behinderten. Er sitzt, jetzt außermedienreal, fast
ganz gelähmt im Rollstuhl, und wenn ich helfe, ihn umzusetzen, fällt
der Kopf unangenehm nach hinten und bleibt so, bis der Zivi kommt. Aber die
Computerstimme ist auch in der Rücklage einfach klasse.
Jubelnd springt Sophie Rois in der Kastanienallee,
Beine und Arme in alle Richtungen schmeißend, auf das Genie zu und beküßt
und begrabbelt es so intensiv, daß die Bauarbeiter, die grade dabei sind,
vor dem Prater die neuen Straßenbahnschienen einzubetonieren, freiwillig
innehalten. Endlich kann der Tonmann (Andreas Köppen) verständliche
Worte aufnehmen (»Ciao, bambino«). Leider aber wird Sophie Rois,
die Großartige, am Abend, in Dunkelheit und Regen, von Regisseur Schlingensief
des Sets verwiesen (weg von der trockenen und beleuchteten Einfahrt zum Prater-Theater!)
und, was schlimmer ist, mit ihr die Intendanten Leander Haußmann und Frank
Castorf, die grade eine Art Blues-Brother-Szene hatten. Schuld hatte ich irgendwie,
denn Schlingensief, echt deprimiert und frustriert (Geld alle! Fördergelder
nicht bewilligt!) hatte mir grade eröffnet, die Dreharbeiten nach dieser
Szene abbrechen zu wollen, und ich hatte ihm vorgefaselt: »Na super, ein
Fehler! Störung! Sofort kreativ nutzen! Tritt selbst vor die Kamera, setz
es produktiv um, blabla…« Also trat Schlingensief in die Szene, ließ
die Kamera weiter laufen und verkündete das Ende: »Verlassen Sie
den Set! Es ist aus!« Das Rois-Gesicht
zerfiel, und Castorf muckte auf: »Das Hausrecht habe ich!«,
aber als es dann doch weiterging, war er weg. Scheiße also, diese gutgemeinten
Ratschläge. Aber ich bekam’s zurück.
Jetzt war ich im Bild, im Jogginganzug,
die Kettensäge in der Hand. Margit Carstensen machte ihre Real-life-Plattenbau-Reportage
(»voll asozial, der reinste Action-Hammer hier«), und dann mußte
ich im Kettensägenoutfit und blutverschmiert meine Belehrungen wiederholen.
Adressat war der Film-Fassbinder, der aus Schlingensiefs Volksbühnen-Inszenierungen
bestens bekannte Hitler-Darsteller sowie psychisch Behinderte Mario Garzaner
aus Graz. Am nächsten Tag bekam ich überdies in der Kritiker-Rolle
von Martin Wuttke was auf die Nase. Mitten auf dem Potsdamer Platz. Das Blut
ist abgewischt, der Rest getrocknet, und hoffentlich bleibt der Take im Film.
Beweismaterial! – Wuttke himself spielt den Schlingensief, weil letzterer nur
notfalls (s.o.) die Kamera verläßt.
Die Rollen flottieren. Bernhard Schütz
spielt vor. Irm Herrmann ist auch Zeitzeugin. Volker Spengler legt die Hermann-Göring-Uniform
(»Der Unhold«) an, Herbert Frisch zeigt Dessous, und Brigitte Kausch
pendelt von Hanna Schygulla zu den Faschistinnen, die ganz in schwarz 12 nackte
Komparsen durch die Sodom-Tage führen – am Hundehalsband.
»Ich bin ein Genie«, ruft
der kleinwüchsige Mario trotzig hintereinander weg. Er hat die perfekten
Fassbinderklamotten an, freilich in Kindergröße. Juliane Lorenz,
Chefin der Fassbinder-Stiftung, sieht mich an. Ich sie. Vor der Kamera hat sie
eine echte Träne geweint. Na prima. Wir einigen uns, daß Fassbinder
erfreulicherweise keine historische Figur geworden ist. Also erlauben wir uns,
über Schlingensiefs Dreh zu lachen. Und das tun wir dann.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: Konkret 12/1996
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Die 120 Tage von
Bottrop
Deutschland, 1997.
Regie: Christoph Schlingensief. Drehbuch: Christoph Schlingensief, Oskar Roehler.
Kamera: Christoph Schlingensief, Kurt Kren, Ralph Brosche, Voxi Bärenklau.
Schnitt: Bettina Böhler. Musik: Helge Schneider. Darsteller: Margit Carstensen
(Margit), Irm Hermann (Irm), Volker Spengler (Volker), Mario Garzaner (Sönke
Buckmann/Rainer Werner Fassbinder), Martin Wuttke (Christoph), Christoph Schlingensief,
Udo Kier, Kitten Natividad, Helmut Berger, Roland Emmerich, Frank Castorf, Leander
Haußmann, Sophie Rois. Farbe/Schwarzweiß. 59 Min.
Die DVD mit dem Film und einem Interview mit C. Schlingensief ist erschienen und erhältlich bei: www.filmgalerie451.de
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