11’09”01
Mosaik
des Grauens
Elf
Filmemacher reflektieren den 11. September
Der
11.September 2001 war ein Ereignis, das die Welt bewegte. In politischer
Hinsicht und auf eine ganz persönliche Weise. Aber wie genau sieht das aus,
wenn ein Ereignis die ganze Welt bewegt? Dieser Frage geht ein Filmprojekt des
französischen Produzenten Alain Brigand nach, das bei seiner Uraufführung in
Venedig heftig diskutiert wurde. Brigand hat elf Filmemacher aus
verschiedensten Teilen der Welt aufgefordert in genau elf Minuten, neun
Sekunden und einem Bild ihre Sicht auf den Eleven-Nine unabhängig voneinander
zu beschreiben.
Die
iranische Regisseurin Samira Makhmalbaf (Schwarze Tafeln) reist in ein
afghanisches Flüchtlingslager an der Grenze. In mühevoller Handarbeit errichten
die Leute hier einen Bunker, der sie vor einem amerikanischen Gegenschlag schützen
soll. Eine Lehrerin versucht vergeblich ihren Schülern, die keine Vorstellung
davon haben, wie ein Hochhaus überhaupt aussieht, die Bedeutung des Angriffs
auf die Twin Towers zu erklären.
Auf
die eklatante Kluft zwischen den Industrienationen und den Verlierern der
Globalisierung verweisen einige Beiträge. Im afrikanischen Burkina Faso wird
das Kopfgeld auf Osama Bin Laden für eine Gruppe junger Schüler zum
Hoffnungsschimmer in auswegloser ökonomischer Situation.
Der
provokante Beitrag des ägyptischen Regisseurs Youssef Chahine führt die Geister
eines verstorbenen US-Soldaten und den eines palästinensischen
Selbstmordattentäters zusammen.
Der
britische Politfilmer Ken Loach leiht seine Stimme einem chilenischen
Exilanten, der an einen anderen 11.September erinnert – an den 11.September
1973, als der demokratisch gewählte Präsident Allende mit militärischer
Unterstützung der USA gestürzt wurde. 30.000 Menschen kamen in Folge des
Putsches ums Leben und es folgten weitere blutige Jahrzehnte der
Pinochet-Diktatur. Loach formuliert am deutlichsten, was in vielen Beiträgen
zwischen den Zeilen steht: die Anschläge von New York sind die bittere
Konsequenz imperialer US-Politik. Die Rücküberweisung der Schuld hat jedoch
nicht nur bei Loach den faden Nachgeschmack der Flucht in die globale
Relativierung. Nur wenigen Regisseuren gelingt es, politische Analyse und
persönliche Betroffenheit miteinander zu verbinden.
Die
indische Filmemacherin Mira Nair (Monsoon
Wedding) schildert das Schicksal einer pakistanischen
Einwandererfamilie in New York, deren Sohn nach dem 11.9. vermisst bleibt und
verdächtigt wird, an dem Anschlag beteiligt zu sein. Erst ein halbes Jahr
später stellt sich heraus, dass er als freiwilliger Helfer ums Leben kam.
Mitten
aus dem Herzen New Yorks erzählt auch der Amerikaner Sean Penn die Geschichte
eines geistig verwirrten Witwers, der von dem weltbewegenden Ereignis nichts
mitbekommt – bis plötzlich Licht durch sein Zimmerfenster dringt, das bisher
von den Twin Towers verschattet wurde.
Fast
ganz im Dunkeln lässt Alejandro González Iñárritu (Amores
Perros) sein Publikum. Gegen das Bildergetöse setzt der mexikanische
Regisseur die visuelle Stille des Schwarzbildes. Nur kurz blinkt die körnige
Aufnahme eines aus dem Hochhaus herausstürzenden Menschenkörpers auf. Auf der
Tonspur verarbeitet Iñárritu Gebete von Chamula-Indios, Geräusche von
berstendem Metall, Abschiedsgrüße auf Anrufbeantwortern, Mitschnitte aus den Notrufzentralen
zu einer bewegenden Montage, die auch nach der spirituellen Seite des
apokalyptischen Ereignisses forscht. 11’09’01 ist ein Mosaik mit starken
Kontrasten. Die kulturellen, politischen und ökonomischen Gräben, die
letztendlich zu dem Anschlag auf die Symbole westlicher Macht geführt haben,
tun sich auch zwischen einzelnen Filmbeiträgen auf.
Als
gelungenes Experiment medialer Globalisierung zeigt 11’09’01
gleichzeitig, dass es das oft beschworene "global village" nicht gibt
und nie geben wird.
Martin
Schwickert
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