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1984

Puff. Vaporisation des letzten Menschen

 

Sie hat uns alles gegeben.

Sonne und Wind und sie geizte nie.

Wo sie war, war das Leben.

Was wir sind, sind wir durch sie.

Sie hat uns niemals verlassen.

Fror auch die Welt, uns war warm.

Uns schützt die Mutter der Massen.

Uns trägt ihr mächtiger Arm.

 

Die Partei, die Partei, die hat immer Recht!

Und, Genossen, es bleibe dabei;

Denn wer kämpft für das Recht,

Der hat immer Recht.

Gegen Lüge und Ausbeuterei.

Wer das Leben beleidigt,

Ist dumm oder schlecht.

Wer die Menschheit verteidigt,

Hat immer Recht.

So, aus Leninschem Geist,

Wächst, von Stalin geschweißt,

Die Partei – die Partei – die Partei.

 

 

Wer hat’s erkannt? Wer kann noch mitsingen? Ehemalige DDR-Bürger können es ganz gewiss. Auf mancher Ostalgieschlagerparty hör’ ich sie "Das Lied der Partei" immer noch anstimmen. Und sie sind erstaunlich textsicher. Mir zu jungem Mecklenburger genügen schon die ersten beiden Strophen. Das hält ja nüchtern kein Mensch aus. Woran sich vielleicht nicht jeder der Singenden mehr erinnern will: Dieses Kulturrelikt ist ein Zeitdokument für unser eigenes "1984". Für unseren Parteienkult. Für unsere ideologische Verseuchung. Für unsere liebe DDR.

 

George Orwell hatte bereits 1945 mit "Die Farm der Tiere" ("Animal Farm") die funktionellen Prinzipien der sowjetischen Diktatur entlarvt. Ausgebeutete rebellieren dort gegen Ausbeutende. Tiere gegen Menschen. Die Revolution siegt, Schweine errichten ihre Herrschaft. Aus "all animals are equal" wird "all animals are equal, but some animals are more equal than others". In "1984" wird die Fabel schließlich zur Dystopie weiterentwickelt. Nun lenkt nicht mehr die Schweineelite, nun lenkt die Partei – die INGSOC. Man könnte sie auch KPdSU nennen. Oder SED. NSDAP ebenso. Unter ihrem ideologisch differenten Mantel funktionieren sie alle gleich. Sie stellen eine ganze Gesellschaft unter ihr Diktat: sie herrschen über die drei Gewalten, sie erziehen, sie überwachen, sie feiern einen Führer.

 

Orwell seziert in "1984" die Mechanismen der Einparteiendiktatur wie ein Pathologe und erzählt ganz nebenbei auch noch eine spannende Geschichte. Eine Literaturverfilmung stellt sich der Herausforderung, jene literarischen Essenzen ins filmische Format zu überführen. Im Jahr 1984 – welch Bürde – hat Michael Radford versucht zu überführen. Es ist ihm recht gelungen. Was allerdings scheitert: die ursprüngliche Dramaturgie. Sie kongruent aufs Filmmedium zu übertragen – wahrscheinlich auch eine Utopie. Radfords Verfilmung jedenfalls, sie hetzt ganz schön voran. Sie verdichtet den Stoff zu dramaturgischen Rudimenten. Sie lässt ihren Figuren zu wenig Raum, zu wenig Zeit. Sie handelt den ersten Augenkontakt zwischen Winston Smith (John Hurt) und Parteifunktionär O’Brien (Richard Burton) in einer unzureichenden Beiläufigkeit ab, anstatt diesen Schlüsselmoment zum halbgöttlichen und jenen Mann zum Halbgott zu erhöhen. Denn O’Brien ist die Hoffnung und Lichtgestalt. O’Brien ist die Ikone. Vielmals vermisst man das Hineinhorchen in den Helden, sein Klammern an O’Brien, seine Empfindungen für Julia (Suzanna Hamilton) oder auch: seinen letzten Glauben an die proletarische Macht.

 

Damit aber genug gescheitert. Radfords Bilder sind nicht imstande, jene unausgesprochenen Gedanken des Winston Smith auszusprechen, doch sie sind in der Lage, der schwermütigen und pessimistischen Grundstimmung des Romans ein Gesicht zu verleihen. Ein hässliches, ein wirklich hässliches. Denn einzig in Winstons Vorstellung schwirrt eine erhellende Komposition einer immergrünen Landschaft, jene des vertraut scheinenden Ortes, an dem keine Dunkelheit herrscht. Ansonsten dominieren dunkle Farben und tiefe Falten, verkrusteter Dreck und soziale Verwahrlosung. Ein formschönes Krankheitsbild ist das. So muss eine Dystopie aussehen. Dass Radford der Substanz von Orwells "1984" letztlich gerecht wird, ist nun jedoch gar nicht einmal der visuellen Interpretation des Stoffes zu verdanken, sondern vielmehr der ganz im Zeichen der Vorlage stehenden Entblößung diktatorischer Fundamente:

 

Der oligarchische Herrschaftsanspruch

 

Nach Aristoteles ist die Oligarchie als entartete Form der Aristokratie die verwerfliche Herrschaft einer kleinen Gruppe über die Masse. In "1984" gliedert sich die Gesellschaft des fiktiven Staates Ozeanien in Hierarchien (Innere Partei, Äußere Partei, Proles), an deren Spitze eine alle drei Gewalten verinnerlichende, privilegierte Elite (die Innere Partei) und ihre Führerpersönlichkeit (Der Große Bruder) stehen.

 

Die Ideologie

 

Stalin Superstar. Der Große Bruder, die Verkörperung Joseph Stalins, ist im Grunde eine allgemeingültige Allegorie für Personenkult. Hitler, Lenin, selbst Honecker war ein Kultsubjekt. In einer Diktatur muss man nur an die Wände der Klassenzimmer schauen. Dort hängen sie dann, die Portraits der Götzen. Sie sind Teil einer eigenen Weltanschauung, auf der eine despotische Herrschaft ihren Machtanspruch gründet. Dem Engsoz ist in "1984" alles unterzuordnen. Von klein auf wird der Nachwuchs mit Ideologie verstrahlt und zur vervollkommnten Generation herangezüchtet, die ihre eigenen Eltern verrät. Die Familie verstümmelt, am sozialevolutionären Ende soll es nur noch ein Familienmitglied geben: den Großen Bruder. Das Menschliche will die Innere Partei aus dem Menschen treiben. Empfindungen und Gefühle – all dies kann die Macht gefährden. Darum wird selbst die Sprache im Neusprech ihrer Mannigfaltigkeit beraubt und mehr als nur auf die Knochen reduziert. "Am besten" gibt es nicht mehr, "doppelplusgut" hat es ersetzt.

 

Indoktrination wahrlich überall. Und sie funktioniert doppelplusgut in der Massensuggestion. Alles wird getan, damit das Individuum nur in der blökenden Masse aufgeht. Uniformität suggeriert ein Zugehörigkeitsgefühl, ohne dass dem Einzelnen bewusst wird, lediglich ein anonymer Partikel im Gesamtkollektiv zu sein. Und die Gemeinschaft, die sich untereinander gar nicht kennt, wächst vermeintlich noch näher zusammen, indem sie sich ein Erkennungssymbol zuweist: Man verschränkt die Arme zum Kreuz. Es könnte genauso gut der Hitlergruß sein. Diese Riten und Massenzusammenkünfte gehen beispielsweise mit dem alltäglichen Zwei-Minuten-Hass einher. Man versammelt sich, um Emmanuel Goldstein zu hassen. Du Sau, du Bastard! – alles darf herausgeschrieen werden. Denn ein Ventil – das weiß die Innere Partei – braucht der Mensch. So wird sich gereinigt von den letzten verbliebenen Emotionen.

 

Die Propaganda und die Lüge

 

Emmanuel Goldstein, mutmaßlich Anführer der Widerstandsbewegung, der ist das Hass- und Feinbild, das ein Regime braucht. Wie beim Großen Bruder kann man sich nicht einmal sicher sein, ob er überhaupt existiert, es genügt, alleine erzählt zu bekommen, es gäbe ihn. Wenn es auf einem riesigen Teleschirm ein Demagoge sagt, dann wird es stimmen. Wahrheit ist doch nichts Statisches, meint die Parteidoktrin, Wahrheit lässt sich verschieben. Mithin gibt es eine eigene Instanz, die sich der Wahrheitsverschiebung annimmt: Im Ministerium für Wahrheit – diese Bezeichnung selbst ist bereits verschobene, pervertierte Wahrheit – widmet man sich unter anderem der Verfälschung von Geschichte nach den Maßgaben der Partei. "Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit." So befand sich Ozeanien immer schon im Krieg mit Eurasien, auch wenn es letzte Woche noch Ostasien war.

 

Über die zahlreichen Teleschirme bringt das allgegenwärtig scheinende Propagandaministerium seine Parolen und Wahrheiten an den Mann: von Fronterfolgen der ozeanischen Armee ist zu hören, von Produktionssteigerungen und Planübererfüllungen noch vielmehr. Wirklich paradiesische Zahlen und Bilanzen. Doch auf der Straße fehlen die Rasierklingen. Und in der Kantine wird einem jeden Tag die gleiche Pampe vorgesetzt. Propaganda bedeutet auch zu lügen, dass sich die Balken biegen, und dabei nicht zu lachen. Propaganda bedeutet, am Abend nicht die Absicht zu haben, eine Mauer zu errichten – und zack, am nächsten Morgen steht das Ding dann da.

 

Die Überwachung

 

Nicht jeder lässt sich so verarschen. Aber für die gibt es den Polizeistaat. Für die Dystopisierung dieses Gebiets ist Orwells Roman berühmt geworden. "Big Brother is watching you" heißt der legendäre Slogan. Der Große Bruder sieht dich. Er ist überall und nirgendwo. Vom Teleschirm herab bohren sich seine Augen in deine. Versteckte Mikrophone werden zu seinen Ohren. Helikopter schweben zwischen den Häusern, jeder könnte zur Stasi äh… Gedankenpolizei gehören. Wer seiner Diktatur Immunität verleihen will, der muss wissen, wer das Ungeziefer ist. Und wenn er es weiß, dann kommen die Kammerjäger. Die Unliebsamen landen im Ministerium für Liebe, werden gefoltert und vaporisiert, das heißt ihre Existenz wird komplett ausradiert aus der Welt. Puff. Und schon hat es einen Menschen nie gegeben, er wird zur Unperson.

 

Nun, diese Eckpfeiler der Parteiendiktatur vermochte Michael Radford gewissenhaft herauszustellen. Damit wird er nicht der Literatur gerecht, nicht ihrer Geschichte, nicht ihren Figuren, jedoch aber ihrem analytischen Blick. Und er schafft es schließlich ebenso, den Schritt weiterzugehen von der bloßen parabolischen Demaskierung und Analyse eines totalitären Herrschaftssystems hin zur eigentlichen Antiutopie George Orwells. Denn alles, was vor dem Ende von "1984" steht, findet sich, natürlich in unterschiedlicher Ausprägung, in der Historie des 20. Jahrhunderts wieder. Die wahre Horrorvorstellung nun bildet die Zerstörung des letzten Menschen, die Zerstörung der Freiheit.

 

"Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass zwei plus zwei vier ist."

 

"Manchmal Winston, da ist es fünf." Hier liegt sie nun, die Schreckensvision: Den freien Geist wird die Partei brechen. Der zerstörte Mensch wird ihr nicht nur sagen, dass zwei plus zwei fünf sei, er wird es ihr glauben: Wahrhaftig, zwei plus zwei ist fünf. Die Partei hat immer Recht.

 

Daniel Szczotkowski

 

Dieser Text ist zuerst erschienen bei: www.ciao.de

Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte

 

 

 

1984

(1984)

England – 1984 – 110 min. – FSK: ab 16; feiertagsfrei – Prädikat: besonders wertvoll – Verleih: Senator – Erstaufführung: 9.11.1984 – Fd-Nummer: 24838 – Produktionsfirma: Virgin – Produktion: Simon Perry

Regie: Michael Radford

Buch: Michael Radford

Vorlage: nach einem Roman von George Orwell

Kamera: Roger Deakins

Musik: Dominic Muldowney

Schnitt: Tom Priestley

Darsteller:

John Hurt (Winston Smith)

Suzanna Hamilton (Julia)

Richard Burton (O’Brien)

Cyril Cusack (Charrington)

Phyllis Logan

Gregor Fisher (Parsons)

James Walker (Syme)

Andrew Wilde (Tillotson)

Peter Frye (Rutherford)

David Cann (Martin)

 

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