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Bleeder

Vor drei Jahren vergaben wir in Sarajevo den Preis der Internationalen Filmkritik (Fipresci) an den dänischen Film "Bleeder". Was waren wir überzeugt von diesem unbekannten Film des nach wie vor unbekannten Regisseur Nicolas Winding Refn! Der Film lief dann überall, auch in den USA. Bloß bei uns kam er nicht in die Kinos. Das Off-Broadway ausgenommen, in Köln, dieses Jahr. Die Erzdiozöse stand dahinter und der ortsansässige Künstler Georg Schmitt, FSK-Prüfer, sowieso. Aber da hier alle über Gewaltfilme inkl. Gewalttheorien Bescheid wissen, schien es mir langweilig, den Standardvortrag zu halten. "Bleeder" ist ein Gewaltfilm, der mir guttut: er bringt alle Bescheidwissis in Rage. Im tristen kopenhagener Vorort kriegt die schwangere Freundin eine geknallt. Der, der den Bösen abstraft, gehört selbst vor den Kadi, weil er ist Ausländerfeind und Mord geht auch nicht. Die Männer kucken Gewaltvideos, die tolle Frau vom Imbißstand geht in die Buchhandlung, und die ist genauso überreich sortiert wie die Videothek. Bloß raus aus den Läden und hinein in eine lichte Zukunft. Das junge Paar geht ins Kino. In den Gewaltklassiker "Armageddon".

 

In Köln erzählte ich, wie ich vom Flughafen nach Sarajevo reingefahren war, Jahre zuvor. Wracks neben der Landepiste, zerschrumpelte Hochhäuser längs der Straße. Mir war beklommen zumut. Inmitten der Innenstadt war Platz genug gewesen, das modernste Riesenfreilichtkino zu bauen, das ich kenne. Mit Dolby Surround, denke ich doch. Rings um die tausend Plätze Coca Cola-Stände ein bei ein. Ausverkauft. Bombenstimmung. Und dann lief "Armageddon" an, Flugwracks, zerschrumpelnde Hochhäuser, gleich am Anfang. Das Publikum johlte und klatschte. Es war sachkundig. Der Film gefiel. Die Kritikerin der Berliner Zeitung reiste am nächsten Tag empört ab. Zwei Tage später geißelte sie in ihrem Blatt auf einer vollen Seite das unverständige Publikum, diese Bosniaken.

 

Was in "Bleeder" nahegeht, das ist das, was zwischen zwei Menschen passiert. Im Alltag. Die Gewaltvideos und Gewaltinszenierungen kann man daneben vergessen. Allerdings gibt es für jeden ein erstes Mal. Die Kettensäge zum Beispiel. Ich war fünf und hatte ein Printerlebnis. Nein, das Wort gabs noch nicht. Ich entdeckte, daß ich Buchstaben zusammenkriegte, dann Wörter und dann das, was sie bedeuteten. Ich sehe sie noch heute vor mir, Fraktur, blau eingebunden, und die Gleichaltrigen, die neugierig in die große Truhe gekuckt hatten, denen fiel der Deckel ins Genick. Die Köpfe, abgehackt, kullerten ins Innere, und aus den Schädeln fertigte wer Trinkgefäße an. Aus denen die Eltern dann ihren Wein schlürften.

 

Ich sah meine Eltern mit neuen Augen. Was mir vertraut gewesen war, war fremd geworden. Zum erstenmal fühlte ich mich als mich. Das Gewaltmärchen hatte mich vorangebracht. – Schauervideos gabs in den dreißiger Jahren ja noch nicht. Die Bilder hatte ich mir selber machen können. Mit meinen neuen "Bleeder"-Freunden besprachen wir dann stundenlang die besten Techniken, fremdzugehen, aus der Perspektive des lieben Alltags gesehen, und wir einigten uns darauf, daß nicht die bekannte Pädagogin weiterhilft, die den bekannten Deckel draufhält, sondern der unbekannte Film des unbekannten Regisseurs mit unbekanntem Ziel und mit unbekannten Schauspielern: "Bleeder".

 

Dietrich Kuhlbrodt

 

Diese Kolumne ist zuerst erschienen im Schnitt, Juli 2002

Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte

 

Bleeder

Dänemark 1999

Länge: 98 min

Regie: Nicolas Winding Refn

Buch: Nicolas Winding Refn

Kamera: Morten Søborg   

Schnitt: Anne Østerud   

Musik: Peter Peter   

Darsteller: Kim Bodnia, Mads Mikkelsen, Zlatko Buric, Liv Corfixen, Levino Jensen, Rikke Louise Andersson, Claus Flygare, Ole Abildgaard u.v.a.

 

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