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Nackt und zerfleischt

Cannibal Holocaust

 

Cannibals of the Space Age – oder: Die Hölle sind Wir: Zu Ruggero Deodatos Cannibal Holocaust

 

1. Zivilisierte vs. Kannibalen?

Ruggero Deodatos Film Cannibal Holocaust, der hauptsächlich in der Gegend der Stadt Leticia im kolumbianischen Urwald gedreht und 1980 uraufgeführt wurde, ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil geht es um den New Yorker Anthropologen Harold Monroe, der eine Reise in eine abgelegene Region des Amazonasgebiets unternimmt, um nach einem Filmteam zu suchen, das einige Zeit zuvor dort verschollen ist. Das Team, bestehend aus Regisseur Alan Yates, seiner Freundin Tina „Faye“ Daniels, sowie den Kameramännern Jack und Mark, hatte sich auf den Weg gemacht, eine Dokumentation über die ansässigen ‚kannibalischen’ Stämme zu drehen. Monroe durchstreift mit seiner Expedition zunächst das Gebiet der Yacumo-Indianer, von wo aus sie zu den beiden verfeindeten Stämmen der Yamamomo (Tree People) und Shamatari gelangen. Die Indianer begegnen den Fremden zunächst misstrauisch und feindselig, doch schließlich gelingt es dem Anthropologen ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie führen ihn zu den Leichen der Dokumentarfilmer, die wie in einem Schrein, scheinbar als eine Art Mahnmal, aufgestellt sind. Bei ihnen findet sich auch das bis zu ihrem Tod aufgenommene Filmmaterial.

 

Im zweiten Teil des Films führt Monroe, nach seiner Rückkehr nach New York, einer Kommission des Fernsehsenders, der die Dokumentation in Auftrag gegeben hatte, das gefundene Material vor. Dabei wird mehr und mehr deutlich, welch blutrünstiges Spiel die Filmer mit den Indianern getrieben haben. Sie brannten ihre Hütten nieder, töteten ihre Nutztiere und einige ‚Rituale’ der Yamamomo, z.B. eine öffentliche Abtreibung, sind offensichtlich von den Filmenden selbst inszeniert worden. Ihre Grausamkeiten kulminieren in der Vergewaltigung eines Mädchens, das anschließend von ihren Stammesangehörigen gepfählt wird. Weil es ihnen wichtiger ist, immer weiter zu drehen, anstatt sich in Sicherheit zu bringen, werden die Filmer schließlich von den Indianern überwältigt, getötet und verzehrt. Die Kommission beschließt, das Filmmaterial zu vernichten. Aus einer Texttafel am Ende des Films geht hervor, dass der Filmvorführer es gestohlen und für 250.000 Dollar verkauft hat. 

 

Der Film entwirft zunächst die Großstadt New York und den südamerikanischen Urwald als Opposition. Während die opening titles zu Flugzeugaufnahmen von den Weiten des Amazonasgebietes ablaufen, befinden wir uns nach einem abrupten Schnitt auf der Aussichtsplattform des Empire State Buildings, wo ein Fernsehreporter von dem verschollenen Fernsehteam berichtet und dabei zugleich den historischen Kontext ihrer Reise liefert.

 

Man is omnipotent. Nothing is impossible for him. What seemed to be unthinkable undertakings yesterday are history today. The conquest of the moon for example, who talks about it anymore? Today we are already on the threshold of conquering our galaxy and in a not too distant tomorrow will be considering the conquest of the universe. And yet Man seems to ignore the fact that on this very planet there are still people living in the stone age and practicing cannibalism. Primitive tribes, isolated in ruthless and hostile environments, where the prevailing law is the survival of the fittest. And this jungle which its inhabitants refere to as the green inferno, is only a few hours flying time from New York City. Was it to remind us that four brave young Americans went there to make a documentary on life in the djungle? Was it also to remind us for instance, that before venturing in the space, we should become more acquated with the planet we live on? Four young and fearless Americans, armed with cameras, microphones and curiosity.

 

Die ‚Rückständigkeit’ bestimmter Völker wird in Cannibal Holocaust sofort mit dem Bild von wilden Menschenfressern assoziiert. Der ‚kannibalische Andere’, insofern er in der Erzählung des unaufhaltsamen menschlichen Fortschritts als Störfaktor fungiert, wird mit einer gewissen Aggression behandelt. The green inferno ist der Arbeitstitel des Films, den Alan und Co. drehen wollten. Und da Filme wie dieser einerseits zur Illustration vorgefertigter Diskurse dienen, andererseits der Akt des Filmens schon an sich, wie später ausgeführt werden wird, ein Akt gleichermaßen kannibalischer wie kolonialistischer Einverleibung ist, nimmt es wenig Wunder, dass die Filmer zu imperialen, mit Kameras und Mikrophonen bewaffneten Helden stilisiert werden. Sie verkörpern somit auch den imperialen Expansionswillen, mit dem dieser Fortschrittsglaube einhergeht, und der besonders manifest wird in dem Vokabular, das bemüht wird, um von der Erforschung des Weltraums zu sprechen (‚conquest of the moon’, ‚conquering  our galaxy’). Auch der Begriff des Kannibalen entstammt einem kolonialen Diskurs, geht er doch auf Colón selbst zurück.

 

Diskurse, so sehen wir gleich zu Beginn, werden in der Welt von Cannibal Holocaust nur noch durch televisuelle Medien, also: durch Bilder vermittelt. Der Diskurs vom unaufhaltsamen Fortschritt, von der Allmacht des Menschen, wird bekräftigt durch die Bilder der Wunderwerke, die er schafft, der Türme, die er ungestraft bis in den Himmel baut. Christian Moser zeigt in seiner Arbeit über Literarische und filmische Inszenierungen der Anthropophagie jedoch, wie bereits zu Beginn des Films dieser Fortschrittsdiskurs umkippt und sich gegen sich selbst wendet, wie bereits hier der scheinbar so immense Gegensatz zwischen Großstadt und Urwald dekonstruiert wird:

 

In dem Moment, in dem der Reporter von den Menschen der Steinzeit spricht, vollzieht die Kamera einen Schwenk: Sie zeigt die Steinwüste Manhattans zuerst von oben, um sodann in die Straßenschluchten einzutauchen. Auf diese Weise wird eine Analogie zwischen dem Urwald der Kannibalen und dem Dschungel der amerikanischen Großstadt insinuiert. Wir sind diejenigen die in der Steinzeit leben, so lautet die Botschaft, die Deodato schon zu Beginn seines Films zu übermitteln sucht. […] Die Opposition zwischen den Wilden und den Zivilisierten wird also mit mehr oder weniger subtilen Mitteln von vornherein in Frage gestellt.

 

Wo ein Diskurs entstehen sollte über den Menschen, der sich die Natur vollends untertan gemacht hat, zeigen die Bilder gerade, wie der menschliche Lebensraum aus dem die Natur komplett verdrängt zu sein scheint, selbst wieder zu wilder Natur wird: The concrete djungle. Diese Diskrepanz, so soll vorweggreifend bemerkt werden, ist vergleichbar der zwischen dem Film, der The Green Inferno werden sollte und dem unbearbeiteten Rohmaterial, wie es schließlich in New York ankommt.

 

2. Opfergesellschaft vs. Massakergesellschaft?

Tzvetan Todorov unterscheidet, anhand der Beispiele der Azteken und der spanischen Konquistadoren zwei verschiedene Formen von Gewalt. Wo die Azteken ihrem Göttern Menschenopfer brachten, richteten die Spanier scheinbar unmotivierte Massaker an, die durch das Streben nach Macht oder Besitz oft nur unzulänglich zu erklären sind. Der Autor unterscheidet also zwischen „Opfergesellschaften und Massakergesellschaften“. Die Unterscheidung geht unter anderem darauf zurück, dass die Opferzeremonien im eigenen Land öffentlich vollzogen werden.

 

Das Opfer […] zeugt von der Stärke des Gesellschaftsgefüges und seinem beherrschenden Einfluß auf den einzelnen. Dagegen offenbart das Massaker die Schwäche des Gesellschaftsgefüges, den Zerfall der moralischen Prinzipien, die den Zusammenhalt der Gruppe sicherten […]: deshalb wird es auch vornehmlich fernab begangen, dort wo sich das Gesetz nur schwer durchsetzen kann: Bei den Spaniern in Amerika oder notfalls auch in Italien. […] Fern der Zentralmacht, fern dem königlichen Gesetz, fallen alle Schranken, das bereits gelockerte soziale Band zerreißt, und es offenbart sich nicht eine primitive Natur, die in jedem von uns schlummernde Bestie, sondern ein modernes und sogar zukunftsvolles Wesen, das keine Moral mehr kennt und tötet, weil und wann immer es ihm Spaß macht. Die „Barbarei“ der Spanier hat nicht Atavistisches oder Animalisches; sie ist durchaus menschlich und kündigt das Kommen der modernen Zeit an.

Wo Opferriten also als Demonstrationen der Stärke einer institutionalisierten Macht zu deren Erhalt beitragen, werden durch die Massaker gerade ihre Grenzen markiert. Gibt das Opfer Zeugnis von der Macht, die bspw. ein bestimmter Herrscher über die ihm unterstehenden Individuen hat, so zeugt das Massaker gerade von der absoluten Souveränität einzelner Individuen.   

 

Todorovs Unterscheidung berücksichtigend sollen nun zwei Szenen des Films einer eingehenderen Analyse unterzogen werden. In der ersten Szene wird gezeigt wie Monroe und sein guide Chaco einem Bestrafungsritual der Yacumo beiwohnen. Aus dem Gebüsch beobachten sie, wie ein Mann eine Frau an einem Ort, der durch einen toten Baumstamm markiert ist, mit einem phallischen spitzen Stein zunächst penetriert und anschließend erschlägt. „That looks like a ritualistic punishment for adultery”, vermutet Monroe und Chaco bestätigt seine Annahme: “That’s what it is. […] That punishment is considered a divine commandment. If he had not killed her, the tribe would have killed him.”

 

Bereits hier wird die Position des Zuschauers thematisiert. Die voyeuristische Haltung des Rezipienten im Kino oder vor dem Fernseher wird auf intradiegetischer Ebene verdoppelt. Dazu trägt nicht nur die gezeigte Situation, sondern auch die filmische Inszenierung bei. Das Ritual wird größtenteils in point of view-shoots  des Indianers gezeigt. Zu sehen ist also die sich am Boden windende Frau und der Stein, der in sie eindringt aus der Sicht desjenigen, der diesen Stein führt. Diese Einstellungen wechseln sich ab mit Totalen, die das Geschehen aus gemessener Distanz zeigen. Auch diese Aufnahmen können aber als subjektive gedeutet werden, insofern sie das abbilden was Monroe und seine Begleiter sehen. Der Zuschauer wird also zu einer doppelten Identifizierung aufgefordert: Zum einen mit dem Subjekt der Gewaltausübung, zum anderen mit demjenigen, der den Gewaltakt als Außenstehender beobachtet. Intradiegetischer und extradiegetischer Zuschauer werden direkt miteinander verglichen, wenn Chaco Monroe auffordert, „[to] sit back and enjoy the show.“ Als Monroe aus seiner distanzierten Haltung ausbrechen will, um der Frau zur Hilfe zu eilen, ins Geschehen einzugreifen, wird er von Chaco zurückgehalten, der sich beim zweiten Versuch, sich nicht damit begnügt ihn festzuhalten, sondern ihm zur Bekräftigung sein Messer an die Kehle setzt. 

 

Die zweite Szene ist wiederum ein Gewaltakt und auch dieses Mal wird die Position des Zuschauers thematisiert. Es handelt sich um die Szene, in der das Filmteam ein Indianermädchen vergewaltigt. Die Verdopplung des Zuschauers ist hier wesentlich expliziter, weil der intradiegetische Zuschauer hier ja tatsächlich ein Kinozuschauer ist, der sich einen Film im Film ansieht. Nachdem die Männer das Mädchen, das sie wiederholt als „little monkey“ bezeichnen, in ihre Gewalt gebracht haben, beginnen sie sie, unter zunehmenden Protesten Fayes, abwechselnd zu vergewaltigen. Die Szene wird mehrmals unterbrochen durch Zwischenschnitte auf Monroe und die Kommission im Vorführraum. Faye protestiert nicht gegen das Verhalten der Männer an sich, aber dagegen, dass sie es filmen: „We have only three cans of film left. We can’t use this.” Als Alan beginnt sich an dem Mädchen zu vergehen und Faye auf ihn losgeht, schubst er sie brutal beiseite. Hier ist die Filmrolle zuende und es sind wiederum kurz die Zuschauer im Vorführraum zu sehen. Nach dem Rollenwechsel setzt das Filmmaterial mit einer Totalen wieder ein, die das Mädchen zeigt, das auf einen Baumstamm aufgespießt wurde, der von ihrem Unterleib aus ihren ganzen Oberkörper durchdringt, und aus ihrem Mund austritt. Die Kamera fährt nun auf sie zu, Alan und Faye folgend, die ihrerseits zu der Gepfählten laufen. Alan starrt die Leiche mit unverhohlener Faszination an, bis Marc ihn darauf hinweist, dass gedreht wird, wo sich sein Gesichtsausdruck in geheucheltes Entsetzen verwandelt.

 

Wir sehen also in Cannibal Holocaust zunächst eine Unterscheidung zwischen der rituellen Gewalt der Indianer und der sadistischen des Filmteams. Auch wenn es sich bei den gezeigten Ritualen eher um Strafen, als um Opfer handelt, erfüllen sie den Zweck, den Todorov den Opferzeremonien beimisst, die Gesellschaft zu stärken. Moser schreibt, die Gewalt der Indianer würden als „archaische Rituale der Sühne und der Vergeltung“ dargestellt.

Deodato schreibt dem Kannibalismus der Indianer […] eine kathartische Funktion zu. Die Anthropophagie dient dem Zweck den Urwald von fremden und feindlichen Elementen zu reinigen. Ähnliches gilt für die phallische Gewalt, die auf seiten der Eingeborenen praktiziert wird.

 

Während der Indianer sein Tötungsritual an einem öffentlichen Ort durchführt und seine Taten nicht nur nicht zu verstecken braucht, sondern im Gegenteil, um das eigene Leben fürchten müsste, würde er sich weigern, den ‚reinigenden Mord’ zu begehen, suchen Yates und die seinen, einen der, aus ihrer Sicht, abgelegensten Winkel der Welt für ihr Massaker aus und handeln dabei eindeutig den (moralischen) Gesetzen ihrer Gesellschaft zuwider. Die angeekelten und schockierten Gesichtsausdrücke der intradiegetischen Zuschauer, verdeutlichen, was von ihrem Treiben zu halten sei. Zwar halten sie ihre Verbrechen auf Film fest, aber mit der Absicht, das entstandene Material im Editionsprozess so zu bearbeiten, dass sie vertuscht, bzw. vollständig den Indianern zugeschoben werden. Die Vorzeichen von ‚Wilden’ und ‚Zivilisierten’ sind also in gewissem Sinne vertauscht. Wo die phallische, patriarchale Gewalt der Indianer Zeuge einer Vielzahl sozialer Restriktionen und Regeln ist, ist sie beim Filmteam Mittel zum vollkommen ungezügelten Lustgewinn. Als Faye versucht sich dem Treiben unter dem Vorwand von Vernunftgründen in den Weg zu stellen, was sie übrigens kaum weniger zynisch und skrupellos erscheinen lässt als ihre männlichen Begleiter, wird sie brutal zurecht gewiesen. Jede Kastrationsdrohung, die dem Lustprinzip Einhalt gebieten soll, wird abgeschmettert. Als Alan vor Beginn der Expedition gefragt wird, ob er Angst habe, vor dem was ihm im Urwald erwartet, antwortet er scherzend: „There is only one thing that scares me and that’s marriage.“

In seinem Essay über die Neugier auf das „Innere des Anderen“ schreibt der Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger zu Splatterfilmen:

 

Die sensationalistische Inszenierung mit zahlreichen Nahaufnahmen von Akten verheerender Körperzerstörung appelliert […] zunächst an eine morbide Neugier auf das Innere des fremden Körpers. Voraussetzung ist dabei die Wahrnehmung des verletzten Körpers als das ausgegrenzte Andere, das Fremde, ein Distanzierungsmechanismus, der den geneigten Rezipienten offenbar vor einem möglichen Mitleiden schützt, denn mit einer weitgehenden emotionalen Teilnahme lässt sich das Geschehen in dieser Intensität kaum rezipieren. […] Neben die Neugier auf das Innere des Anderen, neben die emotionale Distanz angesichts der Abgrenzung des Rezipienten von den gezeigten Opfern, tritt eine kindliche Zerstörungslust, die Freude an der hemmungslosen Demontage, einem willkürlichen acte gratuit, der die Macht über Leben und Tod als ultimative Feier der Freiheit des Subjekts zelebriert.  

 

Vergleicht man die Ausführungen Stigleggers, der sich übrigens u. a. ausdrücklich auf den italienischen Kannibalenfilm der 70er und 80er Jahre im Allgemeinen und Cannibal Holocaust im speziellen bezieht, mit denen Todorovs über die Massaker der spanischen Konquistadoren, die sich verhielten, als hätten sie „ein spezifisches Vergnügen an der Grausamkeit, an der bloßen Ausübung ihrer Macht über andere, an der Demonstration ihrer Fähigkeit anderen den Tod zu geben“, wird zunächst deutlich, dass es keineswegs zufällig ist, dass Deodato ein gewissermaßen koloniales Sujet (weiße Männer kommen in den Urwald und richten ein Massaker unter den Einheimischen an) für seinen Film wählte. Auch die Ausgrenzung des und Abgrenzung vom Anderen ist, so Todorov, Voraussetzung für das Massaker. Wo die Spanier, weit weg vom Machtbereich der Krone, in ihrem Sadismus gerade die Macht des souveränen Individuums zelebrierten, wird die Identität des Anderen entweder ignoriert oder ihm gar ganz abgesprochen. „Die individuelle Identität des Getöteten ist dabei per definitionem irrelevant (denn sonst würde es sich um Mord handeln): Man hat weder die Zeit noch das Bedürfnis, in Erfahrung zu bringen, wen man gerade tötet.“

 

3. Auflösung: Das kannibalische Begehren des zivilisierten Menschen und: Wie sich der Kamera-Phallus der Kastration entzieht.

In Totem und Tabu beschreibt Freud wie der Animismus der „Wilden“ aus ihrem Schuldgefühl gegenüber den Toten entstehe. Neben den schmerzlichen Empfindungen ob des Verlustes einer nahestehenden Person, gebe es, so Freud, immer auch feindselige, denen der Tod eigentlich recht gelegen kommt. Wo allerdings nur die ersten bewusst wahrgenommen würden, blieben letztere unbewusst. „Die Feindseligkeit, von der man nichts weiß und auch weiter nichts wissen will, wird aus der inneren Wahrnehmung in die Außenwelt geworfen, dabei von der eigenen Person gelöst und den anderen zugeschoben.“

 

Mit eben diesem Model der Projektion lässt sich das Verhalten der ‚Zivilisierten’ gegenüber den ‚Wilden’ in Deodatos Film erklären: Abgespalten und auf das Gegenüber projiziert, werden hierbei zunächst die feindseligen Gefühle, die man gegen diese hegt, weil sie durch ihre bloße Existenz dem herrschenden Fortschrittsdiskurs in gewissem Maße widersprechen. Gleiches widerfährt dann aber auch dem eigenen ‚kannibalischen’ Begehren, das, wie Todorov schlüssig ausführt, keine archaischen Züge trägt, sondern gerade dem modernen Menschen eignet. Wo der Film vordergründig diese Projektion thematisiert, bildet sie letztlich zugleich einen Teil seiner eigenen Konzeption des Fremden. Zwar wird ein fundamentaler Unterschied zwischen der Gewalt des Filmteams und der Indianer in den Dialogen behauptet, dieser findet aber in den Bildern keine Entsprechung. Denn betrachtet man das dargestellte Yamamomo-Ritual, so ist das Töten auch hier ein Akt (der point of viewshot unterstreicht es) individuellen sexuellen Lustgewinns.

 

Es wurde gezeigt, dass in der beschriebenen Gesellschaft ein Film wie The Green Inferno die Funktion erfüllt, zu zeigen, dass die ‚Wilden’ böse sind, einerseits weil man ihnen das eigene ‚kannibalische’ Begehren zuschiebt, andererseits vielleicht auch, um sein schlechtes Gewissen darüber zu beruhigen, dass ihre Existenz dem Fortschritt geopfert wurde und wird.

 

Was aber berichtet das Filmmaterial, wie es in Cannibal Holocaust zu sehen ist, über das Begehren der Filmer und der Gesellschaft, für die die Bilder eine so entscheidende Bedeutung hatten?

 

Moser betont den ‚phallischen Charakter’ der Kamera in Cannibal Holocaust:

Sie [die Expeditionsteilnehmer] benutzen die Kamera, um gewaltsam in verschlossene Innenräume einzudringen. Die Expeditionsteilnehmer radikalisieren und literarisieren das aus dem 19. Jahrhundert übernommene Paradigma der Penetration. Mit Hilfe des kinematographischen Apparats kehren sie das Innerste nach außen. […] Die Kamera wird in Cannibal Holocaust als ein Instrument der kannibalischen Einverleibung und der phallischen Penetration gekennzeichnet.

Fragt sich Monroe im Schlusssatz des Films resigniert, wer die ‚wahren Kannibalen’ seien, hat der Film seine Frage zu diesem Zeitpunkt längst beantwortet, indem er zeigt, dass das wesentlich signifikantere kannibalische Begehren das kolonialer Einverleibung ist.

 

Georg Seeßlen schreibt über die Repräsentation der Tropen im Film, sie würden dargestellt als „das Innere eines Körpers.

 

Ich vermute das Innere eines weiblichen Körpers. Oder vielleicht noch genauer: Die Tropen sind das Innere eines weiblichen Körpers, wie es sich ein unerwachsener Mann der westlichen Industrielandschaft vorstellen kann. […] Die Tropen sind ein Traum aus einer Zeit, da Feuchtgebiete noch hoch romantisch waren. Wer in die Tropen will, will in einen heiligen Körper.

 

Auch in Cannibal Holocaust ist der Dschungel „immer beides: Erfüllung und Bestrafung des Begehrens.“ Zwar wird Alan und dem Filmteam hier zunächst die Möglichkeit gegeben, fernab von jeglicher väterlicher Macht und den Kastrationsdrohungen der Frau, die sie binden möchte, trotzend, ihr kannibalisch-sadistisches Begehren hemmungslos auszuleben, doch die vergewaltigte Natur fordert schließlich grausame Rechenschaft. Und so findet die Kastration letztlich statt, nicht in symbolischer Vertretung, sondern äußerst explizit und vor laufender Kamera. Die Kastration des Kamera-Phallus hingegen bleibt unvollständig: Zwar geht die Kamera aus, als niemand mehr am Leben ist, der es verstünde sie zu führen, das bis zu diesem Moment aufgenommene Material aber fällt schließlich Monroe in die Hände.

 

Cannibal Holocaust erzählt so von einem immer wieder misslingenden Akt der Zensur des kannibalischen Begehrens des ‚zivilisierten’ Menschen. Nicht nur übersteht das Filmmaterial, als roher, unbearbeiteter Ausdruck dieses Begehrens, sonderbar genug, die tropische Natur. Auch kommt es durch den Tod der Filmer nie zu dem diskursiven Akt im Schneideraum, bei dem dieses Begehren und die Verbrechen, die aus ihm entstehen, den Urwaldbewohnern zugeschoben werden sollten. Schließlich scheitert auch der Versuch des humanistischen Anthropologen, das Material vernichten zu lassen, an der Verwertungslogik einer Gesellschaft, die, wo sie ihr böses Begehren letztlich nicht ausmerzen kann, sich damit zufrieden gibt, es möglichst gewinnbringend zu vermarkten.

 

Nicolai Bühnemann

 

Nackt und zerfleischt

CANNIBAL HOLOCAUST

Italien – 1979 – 92 min. – Verleih: Jugendfilm – Erstaufführung: 16.1.1981 – Produktionsfirma: F.D. Cinematografica

Regie: Ruggero Deodato

Buch: Gianfranco Clerici

Kamera: Sergio d’Offizi

Musik: Riz Ortolani

Schnitt: Vincenzo Tomassi

Darsteller:

Robert Kerman

Francesca Ciardi

Perry Pirkanen

Salvatore Basile

 

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