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Der Hobbit – Eine unerwartete Reise

 

 

Schöne alte Anderswelt

Fluchttraum Tolkiens „Hobbit“ kommt in die Kinos, und es wäre schon verhext, sollte dieser Film floppen: Kinder brauchen Märchen. Total aufgeklärte Gesellschaften brauchen Fantasy

Fantasy, das war und ist für die meisten Kritiker die extremste Form einer Flucht vor den Zumutungen der Moderne und ihrer Krisen (und zugleich natürlich deren gespenstische Rückkehr). Die Welt ist so eng wie unzuverlässig geworden; das einzige große Geheimnis, das sie noch birgt, ist die Frage, wie lange es wohl noch dauert, bis wir sie kaputtgekriegt haben. Es gibt keinen Flecken mehr auf der Erde, dem man nicht ansieht, dass er eines Tages aussehen wird wie alle anderen Flecken auf der Erde. Und nicht genug damit, dass wir unsere Welt so hässlich gemacht haben, damit wir ein bisschen Sicherheit hätten vor der größten materiellen Not: Auch diese Sicherheit erweist sich als Fata Morgana. Wir haben unsere schöne Welt ganz umsonst kaputt gemacht: Wir bekommen nichts für dieses Opfer, das für den Heranwachsenden in den postindustriellen Gesellschaften immer schon unwiderruflich vollzogen scheint. Wenn also die Wirklichkeit ein schlechter Witz geworden ist, dann träumen wir uns eben eine bessere Welt, eine Welt vor dem Sündenfall der Moderne. Jedenfalls mag dies der Gestus der Mittelstands-Kids sein, die zwar wenig Hoffnung aber auch keine direkte Überlebensnot empfinden. Fantasy ist die süße Lese-, Kino- und Fernsehdroge für jene, die sich nicht mit Kraftclub oder wenigstens Grönemeyer trotzig zur hässlichen Schönheit ihrer postindustriellen Kieze bekennen oder sich digital und metrosexuell ins Posthumane bewegen können.

Schließlich ist all diese Technik, vom Buchdruck zum Computer, so sehr sie die Welt verengt, wenigstens in der Lage, uns perfekte Illusionen zu schaffen. Und, so paradox es klingen mag: In der Fantasy wird die Zeit aufgelöst, nur damit es den Raum wieder geben kann. In den "Herr der Ringe"-Filmen und in der Reihe der neuen "Hobbit"-Filme träumen wir nicht nur von Zauberern, Kriegern, Elben und Zwergen, sondern auch von einer Landschaft, die so prächtig ist wie die neuseeländische. Da könnte man wirklich hin, ach was, da kann man hin, da gibt es schon die "Herr-der-Ringe"-Pauschalreisen und Begeisterndes in den Reiseblättern der großen deutschen Zeitungen. Man muss wohl Fantasy-Filme sehen, um in echter Landschaft wieder einen Sinn zu sehen. Ökonomisch ist das ausgesprochen sinnvoll, was es mit Seelen und Bäumen macht, ist eine andere Sache.

Fantasy als Krisensymptom – das ist schon beinahe ein alter Zauberhut. Erinnern wir uns an die siebziger Jahre, als Hippies und Ex-Revoluzzer, so sah’s jedenfalls der Spiegel, aus unnützen Straßenkämpfen und gesundheitsgefährlichen Bewusstseinserweiterungen in die Welt des "Herrn der Ringe" flüchteten. Ins Innerliche, Märchenhafte, Unwirkliche, ins gefälschte Mittelalter. Tolkien wäre die Antwort auf das Scheitern der jugendlichen Kulturrevolution. Die Öl- und andere erste Wirtschaftskrisen trieben dann auch den Mittelstand zu den Lese-Kulten der Gescheiterten. Zwei Generationen später bekamen die Kids den "Harry Potter". Zur gleichen Zeit zeigte Peter Jackson in seiner "Lord-of-the-Rings"-Filmtrilogie, was man mit Computertechnik, grandiosen Landschaften und einer Handvoll markanter Darsteller machen kann.

Im Reich des Widersinnigen
Im Zeitalter der Digitalisierung lernte das Kino etwas, was vorher der Literatur und allenfalls den Comics vorbehalten war, ein „world building“, das nicht mehr auf eine verkleidete äußere Wirklichkeit angewiesen ist. Alles, was man sich vorstellen kann, kann auch direkt und, die notwendige Rechnerkapazität vorausgesetzt, „glaubwürdig“ in Bewegungsbilder umgesetzt werden. Das Kino emanzipiert sich von der äußeren Wirklichkeit; Fantasy ist das perfekte Genre dafür, und nirgends als im phantastischen
world building findet die räumliche Ausweitung des Kinematografen im 3D-Kino so sehr ihre Rechtfertigung. Die visuelle Fantasy im Kino, im Computerspiel und im Fernsehen, scheint das größte technologisch-ästhetische Paradoxon unserer Zeit: Nur mit der aller-allerneuesten Technik ist es möglich, so nachhaltig in die virtuelle Vergangenheit zurückzukehren.

Aber es geht nicht nur um eine Rückkehr in eine magische Kindheit. Fantasy ist auch ein Umweg durch das Reich des Unerklärten und Widersinnigen, das, wie Theodor W. Adorno bemerkte, der „Wahn der Aufklärung“ ausschloss: „Über das, was draußen und anders ist, ergeht ein universales Tabu. Vorm Anderen hat Aufklärung mythische Angst.“ Wenn man der Fantasy etwas vorwerfen will, dann dass sie sich meistens die Reise ins Andere zu leicht und ungefährlich macht. In der Fantastik war lange Zeit vor allem das Dunkle aufgehoben. Jenseits der Weltordnung rumorte es. Die Wendung ins Positive und Kindliche zurück vollzog das Subgenre, das in Europa den Namen „Fantasy“ erhielt, erst im 20. Jahrhundert: Als bewusste Abkehr von einer als unerträglich angesehenen Wirklichkeit, in der das Böse banal und das Banale böse geworden war. Eine „Anderswelt“ wie die von George MacDonald geschaffene musste her, jenem schottischen Pfarrer, Bauern und Schriftsteller, Freund Lewis Carrolls, der aus Protest gegen die calvinistische Determinationslehre in der Schwere des späten 19. Jahrhunderts eine Phantasiewelt „hinter dem Nordlicht“ und das ganze Genre erfand.

Und so ist es wohl geblieben: Fantasy ist eine Reaktion zugleich auf Krisen allgemeiner Sinn- und Erklärungsmodelle und deren Determinismus. Von anderen Genres der Unterhaltungsindustrie unterscheidet sich die Fantasy allerdings dadurch, dass sie aus ihrem Fluchttraum kein Geheimnis macht. J.R.R. Tolkien konzipierte seine neomythologische Literatur, die so jenseits aller Moderne lag, eindeutig als Fluchtangebot . „Warum sollte man einen Menschen verachten“, fragte er 1960, „der sich im Gefängnis befindet und Versuche unternimmt, sich zu befreien und nach Hause zu gelangen? Oder der, wenn ihm das nicht möglich ist, an andere Themen denkt und über andere Themen spricht als nur über Gefängnisse und Kerkermauern?“ Gemeint ist das Gefängnis der Angst, der apokalyptischen und posthistorischen Visionen, wovon das prächtige Erzählen zu entkommen versucht. Noch die martialische Fantasy der Barbaren und Recken versucht ja vor dem wahren Schrecken der militärischen Rüstung zu fliehen; das Genre kann nur in einem Paralleluniversum die Tugenden und Werte retten, die sich das Bürgertum gehalten und gepflegt hat (ohne sie länger praktizieren zu können): die Tapferkeit, die Würde, die Loyalität, das romantische Sehnen, all das, was spätestens in Auschwitz in seiner perversesten Form zur Ideologie von Massenmördern geworden war. Geboren wurde die Fantasy aus schierem Grauen vor Geschichte und Technik.

Kerker & Computer
1974 kam mit
Dungeons & Dragons das erste Rollenspiel heraus, das sich der Ikonografie der Fantasy bediente. Nun verschwanden die Fans nicht mehr als einzelne (und „Einsame“) in den literarischen Parallelwelten, sondern bildeten Gruppen und eine dazugehörige Kultur. Aus den Rollenspielen entstand das Fantasy-Computerspiel. Die Entwicklung der digitalen Ästhetik und Technik machte die Fantasy erst zu einem vollwertigen, mainstreamfähigen Genre, gewiss, aber es verhält sich auch genau andersherum: Es waren Fantasy-Gestalten, die die Pop- und Kinderkultur mit der neuen digitalen Technik versöhnten und ihr den jahrzehntelang in der parallelen Science Fiction gepflegten, apokalyptischen Schrecken nahmen. Der Computer der kalten Zukunft erschuf die warmen Monster und Helden der magischen Vergangenheit.

Wenn man, wie es die einschlägigen Aficionados getan haben, im benachbarten Horrorgenre den Zombiefilm mehr in den Jahren republikanisch-konservativer-neoliberaler Administrationen und den Vampirfilm mehr in den Jahren der demokratisch-sozialdemokratisch-fürsorglichen ansiedelt, dann sind wohl Fantasy-Filme perfekt für die Zeiten von Übergang und Krise.

Science Fiction will hinaus in Zeit und Raum, Horror hinunter in die tiefsten Abgründe – und doch wollen beide in einem letzten, freilich reichlich naiven Impuls, Aufklärung an ihre Grenzen bringen. In beiden Genres geht es darum, gegen das Fantastische Strategien zu entwickeln. Am Ende muss es „bezwungen“ sein, durch den Sieg der weißen Magie über die schwarze, oder den Sieg der Wissenschaft (im schlimmsten, meist militaristischen Fall: der reinen Technik) über das noch Fremde. Anders in der Fantasy: Hier ist das Fantastische als selbstverständlicher Teil des Lebens akzeptiert, und das Problem ist nicht, es zu bannen, sondern es im Gegenteil „nützlich“ (und natürlich nebenbei: moralisch gut) anzuwenden und zu bewahren.

In der Fantasy unterwirft sich das Fantastische der vor-aufklärerischen, mehr noch: der vorchristlichen, mehr noch: der vor-monotheistischen Ordnung der Welt. Oder der Welt des kindlichen Blickes. Das von Aufklärung und Alltagsrationalismus ausgeschlossene Fantastische wird durch die softe Metaphysik des Genres wieder in den Kreis der Diskurse geholt. Kinder brauchten Märchen, so hieß es bei Bruno Bettelheim; in der Aufklärung steckengebliebene Gesellschaften brauchen Fantasy.

Wie bei den Vampiren und Zombies so lassen sich auch bei den Fantasy-Filmen politische Zuordnungen finden: Bushistische, Reaganistische, Tea-Partyistische Barbaren, Clintonianische, Obamaistische, nachbarschaftliche Hobbits. Immer umkreisen sich in der Fantasy christliche Angst und Heidenspaß. Hier tobt auch der Kampf zwischen Fundamentalisten und Mystikern, zwischen Determinismus und Menschlichkeit. Und ist ein Hobbit wirklich irrealer als ein Xetra-Dax? Er wurde jedenfalls mit etwas mehr Liebe erfunden.

Georg Seeßlen

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Der Freitag

 

Der Hobbit: Eine unerwartete Reise
USA / Neuseeland 2012 – Originaltitel: The Hobbit: An Unexpected Journey – Regie: Peter Jackson – Darsteller: Martin Freeman, Ian McKellen, Cate Blanchett, Ian Holm, Christopher Lee, Hugo Weaving – Prädikat: wertvoll – FSK: ab 12 – Länge: 169 min. – Start: 13.12.2012

 

 

 

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