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Der Fremde am See
Mundarten
Die Oberflächen sind realistisch, Herrschaftsverhältnisse
utopisch verzerrt: Zum Werk von Alain Guiraudie
In seinen Filmen sieht Alain Guiraudie die Wirklichkeit schräg an. Manchmal sehr schräg, da tragen Figuren dann Namen wie Fogo Lompla, Radovan Remila Stoi, Rixo Lomadis Bron, Soniera Noubi-Datch, Saphir du Matin, Manganala Rivonne oder Chaouch Malines. "Du soleil pour les gueux" (2001) und "Voici venu le temps" (2005) sind die Titel der beiden Filme, die diese Namen und Figuren und eine gefährliche Tierrasse namens "Ounaye" teilen (man sieht sie nie) und eine in manchen Zügen vage mittelalterliche Fantasywelt entwerfen, in der die herumstreunenden Helden allerdings entweder Handys benutzen ("Du soleil") oder mitgetragene Telefonhörer an ihren baumelnden Kabeln in Bäume stöpseln und so wirklich telefonieren. Das Genre, wenn es eines gäbe, wäre am ehesten die Pastorale, "Du soleil pour les gueux" spielt komplett in unbewaldeter Landschaft, in der ein Mann im Laufschritt hinter einem anderen Mann herjagt und eine Frau von ihrem Job als Friseuse genug hat und einmal mit einem alten Ounaye-Schäfer schlafen will. Sie reüssiert. Der Jäger scheitert zunächst. "Voici venu le temps" ist nicht ganz so ländlich, hier kommen Haus und Fernseher vor, aber es sitzen auch Menschen in Bäumen und sinnieren über ihr Leben. Geschlitzte Kehlen, schwuler Sex, der finstere Wald, Fantastik und Naturalismus in seltsamer Mischung. Alles gibt sich wie das Natürlichste von der Welt.
In "Roi de l’évasion" (2009) heißt der Protagonist zwar deutlich normaler Armand Lacourtade. Als Traktorverkäufer in der südfranzösischen Provinz geht er auch einem höchstens für Helden französischer Arthousefilme ungewöhnlichen Beruf nach. Als er aber aufgrund eines Verkaufsgebietsstreits fliehen muss, greift er zur Wunderwurzel Dooroot, die nicht nur die Schritte gewaltig beschleunigt, sondern auch dafür sorgt, dass Armand einen hochkriegt, um mit der jungen schönen und bis über beide Ohren in ihn verknallten Curly Durandot (Hafsia Herzi) zu schlafen. Eigentlich ist Armand, wie die meisten Männer in Guiraudies Filmen, stockschwul, gegen das wilde Begehren Curlys ist er – eine Weile – jedoch machtlos. In "Roi de l’évasion" heißt es einmal: Wenn es nach dir ginge, würde immerzu jeder mit jedem schlafen. Ungefähr so geht es in Guiraudies Filmen tatsächlich zu. Sex, meist schwuler Sex, ist dabei von allen Verkrampfungen und Tabus befreit, eine so selbstverständliche Sache wie die Existenz der Ounayes. Dicke treiben es mit Dünnen und Dicken, Junge mit Alten und Jungen, Männer mit Frauen und (zugegeben sehr viel häufiger) Männern und man treibt’s zu zweit, zu dritt oder zu viert. Im Zweifel macht sogar die Polizeit dabei mit.
Das findet statt in alltäglichen Szenarien, die unvermittelt mit fantastischen Elementen versetzt sind. Vermittlung gibt es tatsächlich nicht. Guiraudie setzt seine Welten ohne Gesten der Setzung. Die Namen, die Wurzeln, die Körper, der Sex: das Normalste von der Welt. Auch komisch ausgespielt wird das nur in Momenten. Es kommt gerade nicht auf Fallhöhen an. Wenn, dann ein gewisse entferne Nähe zum trocken servierten Absurdismus von Luc Moullet. Alles spielt immer in Südfrankreich, wo Guiraudie herkommt und lebt. Das Departement Aveyron, seine Heimatregion, wurde einst von Kelten besiedelt und zählt bis heute mehr als tausend in der Gegend herumstehende Dolmen. Godard hat Guiraudies "Ce vieux rêve qui bouge" als besten Film des Cannes-Jahrgangs 2001 gelobt, ein halblanges Werk über einen Mann und eine Maschine, um prekäre Arbeitsverhältnisse, mit viel Herumsitzen. Guiraudie bekam dafür den Prix Jean Vigo, das explizit Politische hat sich aus den Filmen später verloren. Mit Godard hat Guiraudie, wie sich zeigte, weniger als mit Druiden zu tun. Die Oberflächen sind realistisch, Herrschaftsverhältnisse utopisch verzerrt. Formalismen sind Guiraudie ebenso fremd wie Verweise auf Filmgeschichte oder andere Künste. Die Verfremdungseffekte ergeben sich bei ihm über den Inhalt, der zur klaren, freundlichen Form in Spannung gerät. Er benutzt das Kino wie eine Muttersprache, die nur niemand sonst genau so wie er spricht. Einerseits mit großer Selbstverständlichkeit, andererseits voll merkwürdiger Wörter und Wendungen, Idiotismen im ursprünglichen Sinn: "die Sprechweise oder Mundart des gemeinen Mannes; dann jede Eigentümlichkeit im Ausdruck, welche diese oder jene Sprache ausschließlich besitzt, und durch die sie sich von andern unterscheidet; auch eigentümliche Mundart einer Gegend". So kann man das vielleicht am bündigsten sagen: Die Filme von Alain Guiraudie sind eine halb südfranzösische, halb andere Gegend, die die Sprache des Kinos mit sehr eigentümlicher Mundart verwenden.
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Guiraudie macht also Filme, die sui generis sind, jeder für sich, aber sie sind doch in starkem Maß Teil eines sich wandelnden, shapeshiftenden Ganzen. Nicht nur die einzelnen Filme und ihre vielen Abweichungen vom Arthouse-Normalfall, sondern auch die Differenzen zwischen ihnen gehören so irreduzibel wie in wenigen anderen Fällen zum Werk. Man kann sich mit dieser Fremdheit und ihren Nuancen über die Filme hinweg allerdings ein wenig vertraut machen. Das heißt aber umgekehrt auch: Wer "L’inconnu du lac", mit dem Guiraudie dieses Jahr in Cannes ziemlich groß rauskam, ohne Vorkenntnis sieht, verpasst ein Element, das sich nur im Vergleich mit den früheren Filmen markant profiliert: die Abwesenheit des offenkundig Fantastischen. Es steht höchstens als Mögliches noch im Raum: im See, heißt es, hause ein nessieartiger Riesenwels. Zu Gesicht bekommt man ihn nicht. Auch anderes fehlt – das Zerstreuende, Abrupte, die blühenden Namen, die stete Bereitschaft zum Sprung -, dennoch reiht sich der jüngste Film nahtlos ins Guiraudie-Oeuvre: als Werk der konzentrierenden Reduktion.
Die Namen der Figuren sind kurz, Nachnamen haben sie nicht. Franck (Pierre Deladonchamps) heißt der Protagonist. Er kommt an, geht zum See, der auf dieser Seite – die andere sieht man nur liegen – ein gern genutztes Cruisinggebiet ist. Auf einem improvisierten Parkplatz im Wald stehen die Autos. Am Strand liegen die Männer, nackt oder fast. Man geht schwimmen oder auch nicht. Im Wald hinter dem Strand haben sie Sex. Abseits sitzt der dicke, melancholische Henri und blickt auf den See. Er will keinen Sex und war bisher nicht unbedingt schwul. Guiraudie liebt solche Männer, passiv, störrisch, von den üblichen Idealen abweichende Körper, und doch oder darum Attraktoren für schöne junge Frauen oder schöne junge Männer. Franck freundet sich an mit Henri, setzt sich immer wieder zu ihm, sein begehrender Blick fällt jedoch auf den attraktiven, wie aus einem Schwulenporno entsprungenen Michel (Christophe Paou). Der ist in Begleitung. Michel und sein Partner gehen in den See. Michel kehrt alleine zurück, der Begleiter bleibt verschwunden. Seine Leiche wird später gefunden, ein Kommissar taucht auf, daran, dass Franck Michel begehrt, ändert die Tatsache nichts, dass dieser nun unter Verdacht steht, ein Mörder zu sein. Tag für Tag treffen sie sich nun am See, Tag für Tag gehen sie in den Wald. Begegnungen an anderen Orten, die Aufnahme einer Beziehung, die über den See und den Sex hinausgeht, verweigert Michel.
Der Schauplatz – der titelgebende See und seine nächste Umgebung – wird niemals verlassen, die gleichen Einstellungen kehren stets wieder, die Erzählung ist auf fünf Unterschauplätze und wenige Blickachsen verteilt. Die Blicke sind wichtig und sie sind unterschiedlicher Art: verführende, abweisende, gewährende, lauernde und kaum lesbare Blicke. Das Eindeutige, der Sex pur und simpel, ist auf diese Weise von Blickhöfen umgeben, die unterschiedliche Formen möglicher Beziehungen eher andeuten als ausbuchstabieren. Gerade die Reduktion auf die wenigen Orte, auf die von den Tätigkeiten und Haltungen des Alltags und der Arbeit weitgehend befreiten Körper eröffnet einen Raum der Vieldeutigkeit. Was am Strand möglich ist, wird im Gebüsch wirklich. Es sind Beziehungen, die sich darüber hinaus kaum stabilisieren. Der See ist eine Zone anderer Art.
Gelegentlich werden Begegnungen an anderen Orten erwähnt (Franck trifft Henri zum Essen). Von diesen Begegnungen sieht man aber nichts. Nicht nur der Raum, auch die Zeit ist gemessen, begrenzt. Die erzählte Zeit erstreckt sich über zehn aufeinanderfolgende Tage, deren Beginn mit einer Ausnahme jeweils durch dieselbe Einstellung des Parkplatzes im Wald markiert ist. Tage, die in die Dämmerung und die Nacht übergehen. So entstehen auch Tageszeitzonen: Die Dämmerung intensiviert die Leidenschaft, weil mit der Nacht alles endet, ohne dass man sicher sein kann, dass es am nächsten Tag von Neuem beginnt. Die zehn Tage sind in der Erzählzeit von unterschiedlicher Länge, ich hätte das Schematische nicht bemerkt, käme nicht Joao Pedro Rodrigues in seinem höchst lesenswerten Gespräch mit Guiraudie bei CinemaScope in aller Genauigkeit darauf zu sprechen. Der Ordnung, den Kapiteln und der Reduktion von Raum und Zeit zum Trotz hatte ich beim Sehen eher das Gefühl von Freiheit. Der See ist ein heterotopischer Ort, an dem vieles möglich scheint, an dem keine Verbindlichkeiten entstehen. In der Figur des Michel kippt das freilich – höchst attraktiv – in eine narzisstische Bindungsverweigerung, die denkbar aggressive Formen annimmt.
Das Freiheitsgefühl verdankt sich auch der Art, in der sich der Film zu seinem Schauplatz verhält. Er setzt Grenzen, entwirft Zonen, erfindet ihn so neu, wie Guiraudie sonst seine südfranzösischen Landschaften fantastisch neu erfindet, ohne ihnen dabei etwas anzutun. Es entsteht aber niemals der Eindruck, er dränge der Landschaft, dem stets sehr konkret in Szene gesetzten Naturraum, etwas auf. Gedreht ist ausschließlich mit natürlichem Licht – es gibt nur Direktton, Wind und Wasser, keine Musik, alles Natur, einmal ein Motorboot auf dem See (darin die einzige Frau im ganzen Film). Das ergibt einen Naturalismus, der zum Charakter des Heterotopischen nicht im Widerspruch steht. Es gibt in der reduzierten Konzentration Schema und Form, aber auf zwanglose Art. Es steht in seltsamer Spannung zu ihrem Idiotismus, aber Guiraudies Filme sind von Manierismen ganz frei, sie lenken (ganz anders als die von Eugene Green, mit dessen Eigenarten sich die Guiraudies an manchen Stellen berühren) die Blicke stets vom Absonderlichen weg statt zu ihm hin.
Zum Genrefilm machenTodesfall, Mordverdacht und insistente Ermittlung "L’inconnu du lac" nicht. Das Verbrechen verkompliziert aber die schöne schwule Heterotopie, die der Film zum Schein (und nicht nur zum Schein) installiert. Es herrscht am See großer Frieden, noch das Unglück Henris hat etwas gänzlich Unagressives. Es hat Sex, wer Sex haben will. Sogar der unattraktive Mann, der als Voyeur zwischen Büschen herumsteht, die Paare beim Sex beobachtet und dabei immer wieder traurig vor sich hin onaniert, wird meist geduldet und darf zuletzt Franck einen blasen. Die Sexszenen filmt Guiraudie explizit (mit body und member doubles), aber mit der schönen Selbstverständlichkeit, mit der er Normales wie Außerordentliches ohnehin ohne Unterschied filmt – was wie in den anderen Filmen dazu führt, dass die Grenze zwischen beidem im Grunde nicht existiert. Die Tatsache, dass Michel ein Mörder sein könnte, zieht jedoch eine andere Grenze, oder schafft einen doppelten Boden. Franck wird Zeuge der Tat, seine unmittelbare Reaktion sehen wir aber nicht. Er fühlt sich danach aber sichtlich erst recht zu Michel hingezogen. Er verfällt nicht dem Mann (und dessen Körper) allein, sondern auch dem Bösen, das dieser, ohne dass je direkt die Rede darauf käme, verkörpert.
Das Ende ist finster und blutig. Ein Rennen und Verfolgen und Gewalt in der Dämmerung. Die zuvor etablierten sanften Raumordnungen lösen sich auf, die Natur wird zum Raum der Drohung und Desorientierung. Gespielt hat Guiraudie mit Blut, Mord und Verbrechen bereits in früheren Filmen. Weil das Fantastische fehlt und weil das Spielerische zuvor so reduziert schien, bekommt das hier einen ganz anderen Ernst. Waren die früheren Filme Spiele, die keine Regeln kennen, obwohl alle Beteiligten so tun, als verstünden sich diese von selbst, setzt "L’inconnu du lac" sich Begrenzungen und gibt sich, wie unaufdringlich auch immer, geltende Regeln. Der Verstoß, für den Michel steht, ist erst verführerisch, erweist sich aber als tödlich. Es ist sehr eigentümlich: Auch in diesem Film ist vieles heiter, offen, von einem einlässlichen Zutrauen zu Mensch und Natur. Man möchte lange nicht wahrhaben, was man sah. Der Schock des Schlusses ist auch deshalb so heftig, weil er einen selbst des Wunschträumens überführt.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen in: cargo
Der Fremde am See
OT: L’inconnu du lac
Frankreich 2013 – 97 min.
Regie: Alain Guiraudie – Drehbuch: Alain Guiraudie – Produktion: Sylvie Pialat
– Kamera: Claire Mathon – Schnitt: Jean-Christophe Hym – Verleih: Alamode –
FSK: ab 16 Jahren – Besetzung: Pierre de Ladonchamps, Christophe Paou, Patrick
d’Assumçao
Kinostart (D): 19.09.2013
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