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Dogtooth
Überwachen und Strafen
Szenen absurder Rituale und bizarrer Verhaltensweisen reihen sich mehr oder
weniger unverbunden aneinander: Eine Frauenstimme vermittelt via Kassettenrecorder
falsche Wortbedeutungen; zwei Schwestern üben sich in infantilen Wettbewerben
und merkwürdigen Spielen; ihr Bruder treibt es mechanisch und lustlos mit
einer jungen Frau, die ihm sein Vater in regelmäßigen Abständen
zuführt; dieser wiederum bringt sich und seine Frau mit einem Pornofilm
in Stimmung, bevor die beiden sich Kopfhörer aufziehen und den ehelichen
Sex abspulen.
Der Wahnsinn lauert hinter diesen alltäglichen Skurrilitäten und verschrobenen Handlungen, die ein perverses Erziehungssystem abbilden und das irre Portrait einer Familie in Gefangenschaft skizzieren. Außer dem Vater dürfen deren Mitglieder nämlich das Anwesen, bestehend aus einem Haus mit Garten und Swimmingpool, nicht verlassen. Einmal streiten sich die Geschwister um ein Spielzeugflugzeug, das schließlich in der verbotenen Zone jenseits der Grundstücksgrenze landet, während am Himmel immer wieder Flugzeuge vorüberziehen. Eine Ahnung von Freiheit streift diese abgezirkelte, reglementierte Welt im Abseits.
Wenn eine der Schwestern mit einer Schere die Gliedmaßen einer Puppe amputiert und die andere ihren Bruder mit einem Messer vorsätzlich verletzt, lassen sich bereits in beunruhigender Weise die zukünftigen Gewaltexzesse erahnen, die zur Implosion des abartigen Systems führen. Der griechische Regisseur Giorgos Lanthimos inszeniert diese in seinem außerordentlich beeindruckenden Film "Dogtooth" (Kynodontas) als kalkulierte Schockeffekte: radikal direkt und ohne Filter, intensiv und verstörend. Diese wirkungsvolle Drastik hat allerdings Methode und fügt sich nahtlos ein in einen sachlichen, naturalistischen Stil, der mit seinem nüchternen, ungeschönten Zeigegestus eine untergründige Spannung aufbaut und an die Arbeiten des Österreichers Ulrich Seidl erinnert.
Abgeschirmt von der Außenwelt, kontrolliert und überwacht, werden die Kinder von ihren Eltern einer strengen Erziehungsdressur innerhalb eines geschlossenen Raums unterzogen. Das ähnelt in seinen Extremen einer Gehirnwäsche und zielt auf Regression. Die kalkulierten Manipulationen durch den Vater-Tyrannen lösen bei den Geschwistern insofern kindliche Verhaltensweisen und sexuelle Störungen aus, die schließlich im Inzest, aber auch in Aggressionen bis hin zur Selbstverstümmelung kulminieren. Aus Eltern, die ihren Kindern die Freiheit verweigern, werden diktatorische Herrscher, die überwachen und strafen. Die Familie ist in Lanthimos’ schockierender filmischer Parabel auf gesellschaftliche Unterdrückung ein Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Benotung des Films: (9/10)
Wolfgang Nierlin
Dieser Text ist zuerst erschienen in der: www.filmgazette.de
Dogtooth
Griechenland 2009 – 93 min. – Regie: Giorgos Lanthimos – Drehbuch: Giorgos Lanthimos,
Efthymis Filippou – Produktion: Yorgos Tsourgiannis – Kamera: Thimios Bakatakis
– Schnitt: Yorgos Mavropsaridis – Verleih: Splendid – Besetzung: Christos Stergioglou,
Michelle Valley, Aggeliki Papoulia, Mary Tsoni, Hristos Passalis, Anna Kalaitzidou
DVD-Start (D): 15.04.2011
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