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Distanz
Warum läuft Herr B. Amok?
Viele Male teilt der Zuschauer in „Distanz“ den Weg der
Hauptfigur Daniel Bauer durch Berlin. Der Blick ist dabei der eines Verfolgens,
nicht des Begleitens: Auf Schulterhöhe klebt die Perspektive an Daniels
Rücken und Nacken, links wie rechts fluten Passanten, Autos und Straßenzüge
vorbei. In dieser beunruhigenden Komposition scheint die Figur sich selbst zu
beobachten, treibt sich gleichsam vor sich selber her und gleitet gesichtslos
durch die Stadt, die an einem Ich vorbeifliegt, das nicht mehr identisch mit
sich selber scheint.
Diese oft unbestritten eindrucksvollen Ergebnisse einer
sehr ernsthaften Formsuche sind das eine Gesicht von Thomas Siebens Langfilmdebüt,
das vergangenes Jahr die „Perspektive Deutsches Kino“ auf der Berlinale eröffnet
hatte. Das andere ist gleichwohl das eines hoch- und auch überambitionierten
Abschlussfilms (was „Distanz“ nicht ist). Schon der Plot kann nurmehr als eine Art Versuchsanordnung beschrieben werden:
Daniel ist ein stiller, introvertierter Arbeiter im Botanischen
Garten Berlins, wo er mit seiner Schubkarre umherfährt, ab und an etwas
aus- oder eingräbt, vorrangig aber das Herbstlaub zusammenkehrt. Seine
Kollegen dort sind Idioten wie aus dem Bilderbuch: Solche, die ihn ausschließlich
beim Nachnamen, Bauer, rufen und ihr grobes Männlichkeitsgebahren untereinander noch potenzieren, sobald eine Frau auch nur aus der
Ferne sichtbar wird. Eine solche ist Jana: Mit dem (rein akustisch) wunderbar
doppeldeutigen Satz „Sind sie kaputt?“ kommt sie erstmals auf Daniel zu, als
dieser gerade einige verkümmerte Pflanzen betrachtet. Jana, die in der
Verwaltung des Botanischen Gartens arbeitet, wird sich natürlich verlieben
und ihre Liebe wird nichts weniger als die einer Heiligen (oder wahlweise: einer
Blinden) sein: Bedingungslos, schützend und opfernd. Daniel, der durch
diese Liebe gerettet werden soll, steht unterdessen auf der Autobahnbrücke
und wirft stetig immer größere Steine auf die vorbeifahrenden Autos.
Schnell wird er durch ein Zufallsgeschehen, das man wohl schlicht absurd nennen
muss, auch an eine Schusswaffe gelangen und im Görlitzer Park zeigt sich
so alsbald, dass der Tod ein Meister aus dem Gewächshaus sein kann.
Man wolle nicht psychologisieren, nichts erklären,
heißt es von Seiten des Regisseurs – obgleich der Pressemappe zum Film
paradoxerweise ein kurzer Informationstext über „schizoide Persönlichkeitsstörungen“
mitsamt einer Symptomatik in sieben Punkten beigefügt ist. Lässt man
alle Pathologie und Ätiologie beiseite, bleibt für einen Film die
Frage, wie ein (zeitlich gedehnter) Amoklauf gezeigt werden kann, ohne in erklärende,
deutende Muster zu verfallen. Gus Van Sants „Elephant“ hat
vor Jahren diese Frage mit einer radikalen Stilisierung gleichermaßen
erschreckend wie erhellend beantwortet: Wo das Töten zum Ballett wird,
zur hochartifiziellen „Aufführung“ am Ende einer Vorbereitung, in der brutale
Videospiele, Waffengeprotze und Zärtlichkeit unter jungen Männern kommentarlos
nebeneinander stehen, da tut sich hinter allen Deutungsansätzen nur noch
das weiße Rauschen einer nicht beantwortbaren Frage auf.
„Distanz“ hat diesen Mut letztlich nicht: Daniel ist
von Anfang an ein isolierter Sonderling in einer weitgehend erkalteten Umwelt
und der Film traut ihm in den ihm zugeschriebenen Bildern das „Ausrasten“ in
jedem Moment zu. Er umgibt ihn mit einer bis zur Sterilität aufgeräumten
Wohnung, in der er abends kerzengerade auf dem Sofa sitzt und bewegungslos auf
einen Fernseher starrt. Ein Film über die Toskana läuft hier, die
für ihn zum Sehnsuchtsort wird. Dass diese Figur hierbei dann doch mehr
als einmal ein wenig wie der Irre vom Boulevardtheater wirkt, liegt auch an
Hauptdarsteller Ken Duken, der den Beginn des „Durchdrehens“ und Tötens stets
durch einen besonders starren und ins Nichts gehenden Blick so markiert, als
sei es die mitternächtliche Verwandlung eines Werwolfs. Es ist den Szenen
des Näherkommens mit jener liebesblinden Jana zu verdanken, dass Daniel
nicht gänzlich zum Klischee wird: Franziska Weisz’ Jana ist – allem in
diese Frauenrolle eingeschriebenen Bürgerlichen, Reaktionären, Mütterlichen
und Opfernden zum Trotz – eine lebendige und authentische Provokation für
Dukens Manieriertheiten.
Dabei wäre es ausgerechnet das Manierierte selbst
gewesen, das den Film beinahe zu seinen Gunsten hätte wanken lassen: Denn
inmitten der Tristesse der blaugrauen Farbgebung sind es gerade die Blutfontänen
von Daniels rasiermesserscharf die Schädel seiner Opfer durchschlagenden
Kopfschüsse, die derart unvermittelt und dabei so filigran und kunstvoll
in der Luft zerstäuben, dass „Distanz“ in einigen wenigen Momenten ein
beunruhigend instabiles Zentrum bekommt: eine schwarze, bizarre Komik. Mit ihr
weiß der Film nicht so recht etwas anzufangen, obwohl sie – alle Psychologisierungen
zynisch erstickend – der Figur Daniel und ihrer „Krankheit“ so ganz und gar
angemessen wäre. Stattdessen rettet man sich einmal mehr ins Tragische
und mag das eigene, irre flackernde Lachen lieber nicht hören.
Janis El-Bira
Dieser Text ist zuerst erschienen in www.filmgazette.de
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Distanz
OT: Distanz
Deutschland 2009 – 82 min.
Regie: Thomas Sieben – Drehbuch: Christian Lyra, Thomas
Sieben – Produktion: Ken Duken – Kamera: René
Dame – Schnitt: Charlie Lézin – Ton: Martin Schinz – Verleih: AV Visionen
– Altersfreigabe: ab 16 Jahre – Besetzung: Ken Duken, Franziska
Weisz, Josef Heynert, Jan Uplegger, Karsten Mielke, Lars Jokubeit, Stefan
Puntigam, Sigo Heinisch, Boris Methner
Kinostart (D): 19.08.2010
IMDB-Link: http://www.imdb.de/title/tt1145889
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