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Diebe
der Nacht
Die
Welt als böser Traum
Während die Titel des Vorspanns zu
sehen sind, hört man ein Durcheinander von Stimmen, die alle gleiche Wichtigkeit
beanspruchen und deshalb unidentifizierbar bleiben. Diesen polyphonen Zusammenklang
macht der Film später zu seinem erzählerischen Konstruktionsprinzip,
indem er die Chronologie der Ereignisse, die sich um die Rekonstruktion eines
Todesfalls zentrieren, durchbricht und in die Mehrstimmigkeit wechselnder Erzählperspektiven
auflöst.
Jedoch geht es André Téchiné
in seinem neuen Film "Diebe der Nacht" nicht um den subjektiven Wahrheitsgehalt
einer Geschichte, die, wie z.B. in Kurosawas "Rashomon", in einem
Geflecht von Relativitäten undeutlich wird, um schließlich zu verschwinden,
sondern um die Aufsplitterung der vorgeblich festgefügten Einheit in ihre
diskursiven Bestandteile. Die Geschichte im Plural macht die Ränder der
Erzählung zum geheimen Zentrum und die Bewegungen in Raum und Zeit zur
Funktion von Beziehungen und Abhängigkeiten, von Rede und Gegenrede. Denn
es wird viel gesprochen in diesem Film, der aus der Offenheit des Sagbaren die
Widersprüchlichkeit und Unberechenbarkeit seiner Figuren gewinnt und in
seinen komplexen Verhältnissen einem modernen Roman ähnelt, der seine
Geschichte erzählt, indem er sie auf der formalen Ebene dekonstruiert und
damit erweitert. So arbeitet Téchiné nicht nur mit Zeitsprüngen,
Überlagerungen und erzählerischen Perspektivenwechsel, sondern auch
die szenische Auflösung in den Einstellungen führt die beziehungsreiche
Unsicherheit des Standorts vor.
Vielleicht ist das Stimmengewirr des Vorspanns
ein Bestandteil des Traums, den der kleine, frühreife Justin (Julien Rivière)
zu Beginn des Films träumt und der mit einem Schrei endet. Vielleicht kommt
dieser Schrei aber auch aus der Wirklichkeit. Denn im Wohnzimmer der Savoyer
Berghütte liegt der getötete Vater des Jungen aufgebahrt und unter
einer Decke verhüllt, weil das Verbrechen unentdeckt bleiben soll. Aber
das Kind hat seine Unschuld längst verloren, und als Justin sich der Pistole
des Vaters bemächtigt, ist das keine Entdeckung, sondern eine Erbschaft.
Wenn er später wie besessen in einer Jahrmarktsschießbude einen Schuß
nach dem anderen abfeuert, ist das bereits ein Vollzug, von dem die Budenbesitzerin
meint, es sei eine Krankheit.
Allmählich werden die Stimmen den
Figuren zugeordnet. Alex (Daniel Auteuil), der Bruder des Getöteten und
nicht nur als Polizist sein Antipode, ist ein Misanthrop: Er will keine Kinder
in eine Welt setzen, die ihm als böser Traum erscheint; er verachtet die
Jugend und verträgt keine Nähe – weder in seiner früheren Ehe,
die jetzt geschieden ist, noch in seiner sexuellen Beziehung zu Juliette (Laurence
Côte), die er in wechselnden Hotelzimmern trifft. Darüber sagt er:
"Wir waren verbunden in einem Gefühl tiefer Verachtung und das gab
unserer Lust Raum." Dazu paßt, daß er den Geschlechtsverkehr
nur bekleidet vollzieht und unter einem Waschzwang leidet. Aber sein Haß
auf das Leben verzeichnet auch Einbrüche, sein rationaler, schonungsloser
Blick auf die Welt ist Anfechtungen ausgesetzt. Dann spricht er davon, daß
er sich allein fühle wie ein Verirrter.
Denn Juliette, die schließlich alle
verläßt, ist jung, unbändig wild und alles andere als berechenbar.
Ihre Orientierungslosigkeit birgt eine fast triebhafte Gefährdung. Weil
sie vor Alex mit dessen kriminellem Bruder Ivan (Didier Bezace) ein Verhältnis
hatte und darüber hinaus mit ihrer Philosophieprofessorin Marie (Cathérine
Deneuve) schläft, ist Alex einem doppelten Kontrollverlust ausgesetzt.
"Juliette ist ein Wesen auf der Flucht",
sagt Marie, die Juliette liebt und anhand von Tonbandaufzeichnungen ein Buch
über sie schreibt, das sie am Schluß für Alex bestimmt. Als
dieser das Manuskript erhält, ist Marie bereits tot. Ihr Schicksal ist
die Liebe aus Leidenschaft, die das Nichts dem Verzicht vorzieht: "Selbstmord
aus Begeisterung" sagt Téchiné dazu. Kurz zuvor sieht man
Marie und Alex beim Besuch von Mozarts "Zauberflöte".
Téchinés Geschichten markieren
die unmerklichen Bewegungen zwischen Stillstand und Aufbruch ohne falsche Hoffnungen:
Am Anfang steht die andauernde Wirklichkeit einer verlorenen Unschuld, einer
Ernüchterung, mit der sich die Figuren arrangieren oder der sie sich entziehen.
Dabei scheint Veränderung kaum möglich, weil das Leben die Menschen
nicht ansieht und weniger eine Frage der Wahl als der Deutung ist.
Die noch junge Witwe Mireille (Fabienne
Babe) verliebt sich noch einmal: Jimmy (Benoît Magimel), Juliettes Bruder,
ist kriminell und jung. Als er den kleinen Justin auf dem Motorrad mitnimmt
und ihm ein paar Zaubertricks vorführt, scheint für einen Augenblick
der Fluch gebannt und die Kindheit entdeckt: "Er hat nicht viel geredet,
aber es war nicht langweilig mit ihm", kommentiert Justins Stimme aus dem
Off.
Wolfgang Nierlin (17.
Juni 1997)
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: metamorphosen Nr. 20, Juli bis September 1997
Diebe
der Nacht
LES VOLEURS
Frankreich – 1996 – 117 min. – Verleih: Concorde-CR/Turner – Dt. Erstaufführung: 24.4.1997/2.7.1998
Premiere – Produktionsfirma: Les Films Alain Sarde/TF1/Rhônes-Alpes Cinéma/D.A.
Films – Produktion: Alain Sarde
Regie: André Téchiné
Buch: André Téchiné, Gilles Taurand
Kamera: Jeanne Lapoirie
Musik: Philippe Sarde
Schnitt: Martine Giordano
Darsteller:
Catherine Deneuve (Marie)
Daniel Auteuil (Alex)
Laurence Côte (Juliette)
Benoît Magimel (Jimmy)
Fabienne Babe (Mireille)
Didier Bezace (Ivan)
Julien Rivière (Justin)
Ivan Desny (Victor)
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