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Den Menschen so fern
Ein Versuch über das Absurde
Französische Batschkappe statt Cowboyhut. Atlasgebirge statt Monument Valley: Die eigenwillige Literaturverfilmung des Franzosen David Oelhoffen beschwört das Western-Szenario in einer algerischen Steinwüste. Das Experiment funktioniert dank vieler interessanter Regieeinfälle und dank Oelhoffens inspiriertem Zugriff auf die literarische Vorlage von Albert Camus.
In dessen Roman "Der Fremde" erschießt ein Franzose einen Araber, den er gar nicht kennt. Die Antriebslosigkeit dieses Mordes galt dem Literatur-Nobelpreisträger als Symbol des "Absurden", der Sinnlosigkeit menschlichen Daseins. Die gleiche Ausweglosigkeit beschwört der Autor in seiner Kurzgeschichte "Der Gast", die 1957 als Teil der Novellensammlung "Das Exil und das Reich" erschien. Wieder beschreibt er eine schicksalhafte Begegnung zwischen einem Franzosen und einem Araber. Mit seiner ambitionierten Adaption dieses Stoffes formuliert David Oelhoffen jedoch eine interessante Antithese zu Camus’ "existenzialistischer" Haltung. Im Stil eines Westerns erzählt der französische Regisseur in seinem zweiten Spielfilm vom schwierigen Zusammentreffen zweier Männer aus verfeindeten Kulturkreisen, die sich in einer steinigen Wüstenlandschaft unerwartet aufeinender zu bewegen.
Der Franzose Daru, zurückhaltend und dadurch sehr eindringlich dargestellt von Viggo Mortensen, ist ein Reserveoffizier, der im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Franzosen gekämpft hat. In einem kleinen, isolierten Schulhaus auf einem Hochplateau mitten im Atlasgebirge unterrichtet er einheimische Kinder. Erst allmählich erfahren wir, dass er hier als Pied-noir geboren wurde, seine Frau vor zehn Jahren verloren hat und in seiner Heimat nun wie in einem Exil lebt. Wenn er seinen Schülerinnen und Schülern die französischen Flüsse einpaukt, dann wirkt das schon ziemlich seltsam.
Im Auftrag eines befreundeten Gendarms soll er in den Wirren des 1954 sich anbahnenden Algerienkriegs einen Araber, der seinen Cousin ermordete, zur nächsten Polizeistation überführen. Dort wartet auf ihn das sichere Todesurteil. Ein Job, auf den Daru gerne verzichtet hätte. Demonstrativ löst er seinem Gefangenen die Fesseln, doch die Hoffnung, dass dieser nachts türmt, erfüllt sich nicht. Bis hierher hält Oelhoffen sich strikt an die Vorlage, die er jedoch zuspitzt: Der Araber, von dem wir zunächst nicht viel erfahren, scheint irgendwie eine Memme zu sein, ein Lamm, das sich widerspruchslos zur Schlachtbank führen lässt. Wider willen gerät der Lehrer durch ihn nacheinander in die Gewalt von algerischen Rebellen und dann von französischen Milizen. Und er muss für seinen ängstlichen Schutzbefohlenen sogar töten.
Treffen im Western zwei Männer aufeinander, dann kommt es normalerweise zum klassischen Shootout, zum Revolverduell: Du oder ich. Die Tötung des Revolverhelden, der sich dem Gesetz nicht unterwirft, ist ein heroischer, initialer Akt der Gesellschaftsgründung. Obwohl die Zivilisation auf Gewaltverzicht basiert, muss zunächst Gewalt angewandt werden, um diesen Verzicht durchzusetzen. Dieses Drama wird im Western stets aufs Neue variiert. In jenen Filmen, auf die Oelhoffen sich bezieht, muss ein wackerer Marshall einen ausgekochten, hinterhältigen Typen ins Gefängnis überstellen. Dabei muss der Marshall über sich hinauswachsen.
Dieses Motiv variiert "Den Menschen so fern" allerdings sehr geschickt, denn hier bewegen sich beide auf ihrem Weg durch die Steinwüste unerwartet aufeinander zu. Das ist bei Camus nicht der Fall. In der Vorlage gibt Daru dem Araber die Wahl, doch dieser entscheidet sich für das Gefängnis und somit für seinen Tod. Bei seiner Rückkehr in die Schule liest der Lehrer an der Tafel eine Drohung. Er habe einen Araber ans Messer geliefert und müsse dafür bezahlen.
Von dieser nachvollziehbaren, letztlich aber etwas konstruiert erscheinenden "Absurdität" weicht Oelhoffen, der auch das Drehbuch verfasste, stark ab. Im Gegensatz zu Camus gibt er dem anonymen Araber zunächst einmal einen Namen. Und er ersinnt auch eine interessante Hintergrundgeschichte, die sein Motiv erklärt: Wie Daru erst allmählich erfährt, musste Mohammed (Reda Kateb) sich gegen seinen korrupten Cousin zur Wehr setzen. Dieser hat von Mohammeds Familie Getreide als Ausgleich für nicht entrichtete Schutzgeldzahlungen eingefordert. Die Ermordung dieses Cousins, eine Verzweiflungstat, hätte nach arabischer Tradition mit Blutrache vergolten werden müssen. In diesem Fall wären auch Mohammeds Brüder, die noch Kinder sind, in diese ausweglose Verstrickung mit einbezogen worden.
Aus diesem Grund hat Mohammed beschlossen, sich an die französische Justiz auszuliefern. Seine Tötung durch eine neutrale Instanz hat gemäß der arabischen Tradition nämlich keine Blutrache zur Folge. Auf diese Weise entbindet er die Brüder von ihrer Schuld. Mohammed hat seine Verurteilung zum Tode also genauestens geplant. Doch im Gegensatz zu Camus’ Gedankenwelt ist sein Motiv keineswegs "absurd", sondern ehrenhaft. Wie in einem griechischen Drama wird er zum tragischen Helden, um dadurch seinen Brüdern ein Leben ohne Schuld zu ermöglichen, in die alle wider Willen verstrickt werden.
Pointiert und ohne erhobenen Zeigefinger analysiert Oelhoffen eine muslimisch geprägte Gesellschaft, in der Traditionen und ungeschriebene Gesetze heilig und unverrückbar scheinen – obwohl die Mitglieder dieser Gesellschaft sich auf der untersten Ebene der Clans alle gegenseitig betrügen. Diese Geschichte, die leicht ins Pathetische hätte umkippen können, erzählt Oelhoffen verknappt, elliptisch und mit gelungenen Anleihen beim klassischen Western. Männer müssen die Dinge unter sich ausmachen. Dabei kommt es aber nicht wie im Western üblich zum Shootout. Satt dessen kommt Daru ins Staunen. Die Ehrfurcht gegenüber der inneren Größe seines Gefangenen spiegelt sich in beeindruckenden Landschaftspanoramen mit kargen, steinigen Bergrücken und menschenleeren Dörfern. In einer der schönsten Szenen flüchten die beiden vor dem Regen in ein verlassenes Haus. Erst nach dem Betreten bemerken sie, dass es noch immer regnet: Das Haus hat kein Dach; beide sind heimatlos. Als Daru seine Hände pantomimisch an einem imaginären Kaminfeuer wärmt, kommen Mohammed durch diese menschliche Geste plötzlich die Tränen: Ein Western? Ja gewiss, aber die beiden Männer verkörpern nicht gerade die übliche John Wayne Durchhalteparole.
Dass Daru seinem Schutzbefohlenen am Ende zu einem Ausweg aus schicksalhafter Verstrickung verhilft, kann man als gefühlte Wiedergutmachung für jene Menschenrechtsverletzungen während des Algerienkriegs ansehen, die der Film nebenbei anprangert – und mit deren Eingeständnis die Franzosen sich bis heute schwer tun. Mit seiner Interpretation führt Oelhoffen die von Camus behauptete, etwas kopflastig erscheinende Ausweglosigkeit des "Absurden" sublim ad absurdum. Der leise inszenierte Algerienwestern schlägt so eine Brücke zwischen den Kulturen, ohne dass es menschelt. Der glänzend fotografierte Film funktioniert vielleicht auch ohne diese politische Deutung.
Benotung des Films: (7/10)
Manfred Riepe
Dieser Text ist zuerst erschienen in der: www.filmgazette.de
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Den Menschen so fern
OT: Loin des hommes – Frankreich 2014 – 102 min. – Regie: David Oelhoffen –
Drehbuch: David Oelhoffen – Produktion: Marc Du Pontavice, Matthew Gledhill
– Kamera: Guillaume Deffontaines – Schnitt: Juliette Welfling – Musik: Warren
Ellis – Verleih: Arsenal Filmverleih – FSK: ab 12 Jahre – Besetzung: Viggo Mortensen,
Reda Kateb, Djemel Barek, Vincent Martin, Nicolas Giraud, Jean-Jérôme
Esposito, Hatim Sadiki, Yann Goven, Antoine Régent, Sonia Amori, Antoine
Laurent, Ángela Molina – Kinostart (D): 09.07.2015
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