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Coraline
Die
Tücken des erfüllten Wunsches
Coraline ist 11, mithin in einem Alter,
in dem einen die Welt nicht mehr versteht. Was um
so bitterer ist, begreift das aufgeweckte Mädchen doch seinerseits
bestens, was um es herum passiert. Ihre Familie ist gerade in eine abgelegene
Gegend gezogen, in der es unangenehm viel regnet. Überall stehen nicht
ausgepackte Kisten herum. Beide Eltern hacken wie wild in ihre Laptops und verweigern
die Kontaktaufnahme. Sie soll sich nicht im Schlamm draußen dreckig machen,
mahnt die Mutter. Sie soll doch eine Liste aller Fenster im Haus aufstellen,
wenn ihr langweilig ist, rät der Vater. Kein Wunder also, dass Coraline
schlechter Laune ist. Und sie zeigt es: verzieht ihr Gesicht, schnauzt den doofen
Nachbarjungen an, zeigt sich trotzig beim Abendessen.
In einem Realfilm wäre eine derart
ungefällige Kleinmädchenpersönlichkeit wie Coraline als Hauptperson
undenkbar. Man stelle sich vor, statt nur ihre Stimme zu hören, würde
man Dakota Fanning leibhaftig am Tisch sitzen und trotzen sehen – sofort gäbe
es da diese Aura von Süßlichkeit, die Kinderdarsteller nun mal so
mit sich bringen. Der Animationsfilm verfremdet diese Aura, besonders jene Technik,
die weniger als der herkömmliche Zeichentrick auf Lebensähnlichkeit
aus ist: das Stop-Motion-Verfahren, in dem Puppen gefilmt werden. Henry Selick,
Regisseur von "Coraline", ist ein Meister dieses Fachs; seine Figuren
tragen "echte" Strickpullover, parodieren in ihren Proportionen aber
die menschliche Anatomie eher, als dass sie sie nachahmen. Dieser Animation
wohnt eine unterschwellige Monstrosität inne, weil die Figuren über
eine unberechenbare Wandlungsfähigkeit verfügen, die wundersam und
erschreckend zugleich sein kann: da werden Mäuse zu Varieté-Tänzern,
Käfer zu Sitzgelegenheiten und die vertrauten Umrisse der Mutter transformieren
sich nach und nach in ein langhalsiges, spinnenartiges Wesen.
Der Film erzählt eine jener Kindergeschichten,
die ihr Gruselelement aus der Tiefe unbewusster Ängste und Projektionen
beziehen. In ihrer Langeweile und Vereinsamung entdeckt Coraline eine geheime
Tür und dahinter eine Wohnung, die genauso ist wie ihre eigene – nur viel,
viel schöner. Die Eltern dort sind guter Laune und wenden sich ihr zu,
die Einrichtung ist gemütlich, zu essen kocht ihr die "andere"
Mutter all ihre Lieblingsspeisen. Doch bald schon zeigen sich in diesen Wunscherfüllungen
merkwürdige Erschöpfungsanzeichen. Wenn die Darstellung dieser jungen
modernen Kleinfamilie in Tonfall und Ausdrucksweise nicht gleichzeitig so realistisch
wäre, könnte man den Film leicht als hübsche 3-D-Spielerei abtun.
So aber ist Selick mit "Coraline" ein weises, kleines Meisterwerk
über Wunsch und Verwirklichung gelungen.
Barbara Schweizerhof
Dieser Text ist zuerst erschienen
in der: taz
Coraline
USA
2008 – Regie: Henry Selick – Darsteller: (Stimmen) Luisa Wietzorek, Marion von
Stengel, Patrick Winczewski, K. Dieter Klebsch, Hannes Maurer, Katja Nottke,
Reiner Schöne – Prädikat: besonders wertvoll – FSK: ab 6 – Länge:
101 min. – Start (D): 13.8.2009
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