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Christoph
Schlingensief – Die Piloten
Talkmaster Christoph hat eine große
Sorge: Vater und Großvater sind bereits erblindet. Und warum sieht der
eigene Sehnerv so aus, wie er aussieht? Da wird einem ja ganz blümerant,
dann muss man – jetzt ganz Talkmaster – drüber reden, oder? Über Krankheit,
Ängste, Hypochondrie. Über Drüsenpapillen und Selbst- und Fremdverschmutzung
des Auges. Wozu ist man schließlich in einer Talkshow, die doch keine
ist, sondern eher eine Simulation von Talkshow als Performance, deren Titel
lautet: „Die Piloten – eine Talkshow in 6 Folgen, die nie ausgestrahlt wird“.
Christoph Schlingensief hat eingeladen und alle kommen: Claudia Roth, Oskar
Roehler, Rolf Zacher, Rolf Hochhuth, Klaus Staeck, Hermann Nitsch, Lea Rosh,
Jürgen Fliege, Gotthilf Fischer, Katharina Schüttler und Sido. Keiner
weiß, was passieren wird – auch Schlingensief selbst nicht.
Was prinzipiell möglich ist, zeigt
Regisseurin Cordula Kablitz-Post in einem Rückblick auf das legendäre
Format „Talk
2000“, als es zwischen
Schlingensief und einem enttäuschten Fan zu Handgreiflichkeiten kam. Weil
aber nie ganz klar ist, wann bei Schlingensief die Inszenierung anfängt
oder aufhört, weil es vielleicht vor der Kamera überhaupt keine Authentizität
gibt, sondern höchstens deren strategische Behauptung, müssen auch
die »Handgreiflichkeiten« in Anführungszeichen stehen. So ist
man denn auch skeptisch, wenn in „Die Piloten“ ein paar Blicke hinter die Kulissen
geworfen werden. Selbst die fortwährenden Konflikte zwischen Schlingensief
und seiner schrillen Glam-Rock-Studioband „The Pleasures“ könnten Teil
der Show selbst sein, weil diesmal der exzentrische Talkmaster selbst ins Zentrum
des filmischen Interesses rückt.
Schlingensief hat ja in den vergangenen
Jahren eine steile Karriere vom Enfant terrible der Theater- und Filmszene zum
Liebling der Feuilletons hinter sich gebracht, wobei nie ganz klar ist, welches
symbolische Kapital bei dieser Karriere wohin transferiert worden ist. Glaubt
man den Bildern der „Piloten“, dann hat Schlingensiefs frühere Lausbubenhaftigkeit
mittlerweile durchaus Momente einer schmierigen Selbstgefälligkeit angenommen. Irritiert wird man Zeuge,
wie Schlingensief seine langjährige Mitarbeiterin Susanne Bredehöft
begrüßt, die ihm einen nicht sonderlich komischen Einfall mitteilt,
worüber Schlingensief sich derart künstlich amüsiert, wie man
es in dieser Form einer professionellen Herablassung bestenfalls von Thomas
Gottschalk, Johannes B. Kerner oder Stefan Raab erwarten würde. Aber, wie
gesagt, vielleicht ist auch gerade diese Assoziation von Schlingensief beabsichtigt
worden.
Gleichwohl ist das Verhalten der Gäste
interessant zu beobachten. Jeder muss damit rechnen, vom Talkmaster »fertig
gemacht« zu werden, was offenbar als Drohung bei Schlingensief immer mitschwingt.
Fernsehpfarrer Jürgen Fliege sollte sogar einmal von Schlingensief in einer
anderen Talkshow fertig gemacht werden, aber dann solidarisierte sich Fliege
überraschend mit Schlingensief, der gerade von einem anderen Moderator
vorgeführt wurde. Das wird als Anekdote hereingereicht – mittlerweile kommt
Fliege gerne zu Schlingensief. Andere Gäste wie Rolf Hochhuth oder Sido
scheinen dem Geschehen ohnehin nicht gewachsen, reklamieren immer wieder vergeblich
eine Rückkehr auf den sicheren Boden der Konvention. Doch es gibt hier
nicht nur Promi-Gäste, sondern auch Gäste, die mit einer Fake-Biografie
ausgestattet wurden, wie die Ex-Angestellte des Suhrkamp Verlages, die von Mobbing,
Schlägereien, ungewollten Schwangerschaften und Abtreibungen innerhalb
des ehrwürdigen Verlagshauses berichtet.
Auch im Publikum sitzen
Teile des Ensembles und spielen ihre Rollen. Ist das da Jonathan Meese oder
sieht da nur jemand so aus wie Jonathan Meese? Es ist durchaus unterhaltsam
zu beobachten, wie die unterschiedlichen Gäste und auch das Publikum mit
unterschiedlichsten Strategien versuchen, sich vor Unvorgesehenem und Unvorhersehbaren
einigermaßen zu schützen – ein einverständiges Augenzwinkern
in Richtung Publikum reicht da nicht. Dann aber touchiert Schlingensief unversehens
die Schmerzgrenze, indem er das Sterben seines Vaters zum Gegenstand der Show
macht. Wäre es, so die rhetorische Frage, nicht unendlich viel wichtiger,
jetzt dem sterbenden Vater in Mühlheim die Hand zu halten als hier in Berlin
Piloten zu produzieren, die nie gesendet werden. Wenig später wird Schlingensief
seinen (falschen) Vater auf der Bühne präsentieren und ist nach der
innigen Umarmung sichtlich gerührt, weil der sterbende Vater eben keine
Fiktion ist.
Unterscheidet sich Schlingensiefs Verhalten
an dieser Stelle von demjenigen Claudia Roths, die zur Begrüßung
kurz klarstellt, dass sie nicht so gut drauf sei, weil sie gerade erfahren habe,
dass ein guter Freund, der (echte) türkisch-armenische Autor Hrant Dink
vor ein paar Stunden ermordet wurde. Was sie unheimlich betroffen macht, aber
gleichzeitig nicht davon abhält, an einer Talkshow teil zu nehmen. Immer
wieder kippt das Groteske medialer Selbstdarstellung, das ja im Fernsehen selbst
früh in Formaten wie „TV Kaiser“ unterhaltsam thematisiert wurde, um ins
bloß noch Gespenstische, dessen Doppelbödigkeit sich übrigens
einer Analyse auf einer Meta-Ebene entzieht.
Deshalb bleibt die nachgereichte Analyse
des Geschehens durch den Theoretiker Boris Groys auch hinter dem Geschehen selbst
zurück. Die Aufnahmen zu „Die Piloten“ stammen vom Januar und aus dem Juli
2007. Mittlerweile ist Christoph Schlingensief selbst schwer krank, hat seine
Krankheit selbst wiederum zum Gegenstand einer Kunstaktion („Eine Kirche der
Angst vor dem Fremden in mir“) und damit sehr offensiv öffentlich gemacht.
Aber in Zeiten, in denen Selbstmorde im Fernsehen gesendet werden, wirkt diese
Provokation nicht mehr. So bleibt „Die Piloten“, gedreht im Auftrag von ARTE,
eine wenig erhellende Tautologie: Fernsehen ist Müll ist Fernsehen ist
Müll.
Einige Wochen nach der von Marcel Reich-Ranicki
losgetretenen und auch durchaus der Schlingensiefschen Logik folgenden Debatte
über Qualitätsfernsehen verpufft das kritische Potential von „Die
Piloten“ fast vollständig und wird selbst zu Trash. Interessanter ist,
dass „Die Piloten“ einmal mehr klar stellt, dass Schlingensief kein Provokateur
ist, sondern vielmehr ein radikaler Ich-Erzähler, der sein Leben zur Grundlage
und zur Munition seiner Kunst macht. Und jetzt eben auch den Tod seines Vaters
und die eigene Krankheit.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen in: film-Dienst
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Christoph
Schlingensief – Die Piloten
Deutschland 2007 – Regie: Cordula Kablitz-Post – Darsteller: (Mitwirkende) Christoph Schlingensief, Nicole Konstantinou, Susanne Bredehöft, Tobias Buser, Rolf Hochhuth, Katharina Schüttler, Rolf Zacher, Oskar Roehler – FSK: ab 12 – Länge: 94 min. – Start: 1.1.2009
Die DVD ist erschienen beim Verleih: www.salzgeber.de
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