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Chernobyl Diaries

 

 

Die Reise, auf die Bradley Parkers Debütfilm "Chernobyl Diaries" sechs junge Touristen schickt, hat einen wenig heimeligen Zielpunkt.

Es beginnt mit einem verwackelten Europabilderbuch: Das Kollosseum in Rom, der Tower of London, davor herumalbernd und in die Kamera grüßend vier junge, mittelschichtsuniformierte amerikanische Touristen, zwei junge Männer, zwei junge Frauen. An allen Ecken und Enden des Genrekinos stößt man derzeit auf solche Bilder: das Heimvideo ist drauf und dran, zum neuen ästhetischen Standard zumindest kleinerer Horror- und Thrillerproduktionen zu werden. Man kann sie medientheoretisch interessant finden und als Abbild der unaufhaltsamen Vermehrung hochauflösender Videobilder im gesellschaftlichen Raum eignet ihnen vielleicht sogar ein Moment von Realismus  – filmisch machen die meisten dieser niedrig budgetierten "found-footage"-Produktionen trotzdem keine gute Figur; zu viel scheint auf die Dauer verloren zu gehen, wenn die Kamera ihr Privileg der Unsichtbarkeit aufgibt. Glücklicherweise lässt der von Oren Peli (dem Regisseur von "Paranormal Activity", einem der wenigen wirklich gelungenen "found-footage"-Horrorfilme) produzierte und vom Debütanten Bradley Parker inszenierte "Chernobyl Diaries" – wie zuletzt auch der spanische Zombiefilm "Rec 3" – nach dem Prolog die consumer-video-Ästhetik hinter sich: Der Film scheint regelrecht aus einem Smartphone herauszuspringen, emanzipiert sich von der fingiert subjektiven Perspektive und schreibt seinen Vorspann um zum technisch vermittelten Erinnerungsbild.

Nun, da der Film seine Freiheit wiedergefunden hat, macht er sich daran, seine Protagonisten mit sanfter Hand ihrem Untergang entgegen zu führen. In seiner Exposition erzählt der Film vielleicht etwas über sich selbst, über sein Selbstverständnis als ein Stück Unterhaltungskino alter Schule: Seine Figuren werden nicht, wie die Jungs in Eli Roths nur auf den ersten Blick sehr ähnlichem "Hostel", von finsteren Bösewichten geködert, sie gehen aus freien Stücken; sie haben eigentlich nicht den geringsten Grund, da zu sein, wo sie sind, sie sind fast so zufällig in der Ukraine gelandet, wie man als Kinogänger im Multiplex an einem Tag Karten für eine Komödie und zwei Wochen später der Abwechslung halber für einen Horrorfilm löst. Wie auch immer, die vier Amerikaner – verwandtschaftlich, romantisch und freundschaftlich untereinander verbunden: die Brüder Paul und Chris, Chris’ longtime girlfriend Natalie und deren beste Freundin Amanda (die Namen der Darsteller sind bislang nicht geläufig; auch für die Zukunft muss man sie sich wohl eher nicht merken) – sind inzwischen jedenfalls weiter nach Osten vorgestoßen. In der Ukraine stolpern sie etwas verloren durch die Gegend und landen schließlich im Büro des voluminösen und muskulösen Extremtourismus-Kleinunternehmers Uri ("I work alone"). Der sammelt noch Michael und Zoe, ein etwas weniger mainstreamiges australisches Pärchen auf Hochzeitsreise, ein und macht sich mit den sechs auf gen Prypiat: eine Siedlung, in der bis zum Reaktorunglück im April 1986 die Belegschaft des Kernkraftwerks Tschernobyl angesiedelt war und die seither komplett leer steht. Oder leer stehen sollte.

Schön ist die Fahrt nach Prypiat, die neugierigen Blicke aus dem Fenster, die ersten kleinen Irritationen (Kugelwellen auf der Wasseroberfläche eines Teichs, darunter ein paar geheimnisvolle Schatten), noch schöner die erste Besichtigung der von auf halbem Weg zwischen Tristesse und Größenwahn stecken gebliebener realsozialistischer Architektur geprägten Geisterstadt: Verloren stehen die sieben zwischen den verlassenen Betonriesen, die Stille stürzt auf sie ein und modelliert das kleinste Rascheln zum unheimlichen Geräuschereignis. Im Hintergrund sieht man die Türme des Kraftwerks (ein trick shot: gedreht wurde nicht in der Ukraine, sondern in Serbien und Ungarn). In einem der Hochhäuser kommt ihnen, eine erste echte Warnung, ein ausgewachsener Bär entgegen gerannt. Als sie zu Uris Kleinbus zurückkehren, springt der nicht mehr an. Und als es dunkel wird, kommt, was natürlich von Anfang an kommen musste in einem Horrorfilm namens "Chernobyl Diaries": erst blutrünstige Hunde, dann andere, bösartigere, mehr oder weniger verstrahlte Geschöpfe, wilde Hetzjagden, hysterisches Kreischen, rettesichwerkann, aber lasstmichnichtblutendalleinimvanzurück.

Wenn – ziemlich genau in der Mitte des Films – diese Hetzjagd beginnt, wird der vorher sympathisch ungeformt anmutende "Chernobyl Diaries" dann doch deutlich schwächer. Die vorher auf eine angenehme Halbdistanz zu den Figuren eingestellte Kamera, der es durchaus gelungen war, die zögernd-ziellose, genuin touristische Unbefangenheit der Jungs und Mädels filmisch zu übersetzen, verliert die Kontrolle, hastet zunehmend desorientiert durch einen Schauplatz, der für sich selbst hundertmal furchteinflößender ist als die Heerscharen von Unholden, die sich auf die Abenteurer stürzen, der sich aber leider immer mehr in ein beliebiges, notorisch schlecht ausgeleuchtetes Grusellabyrinth verwandelt. Die letzte Wendung am Ende, andererseits, die hat dann doch einen guten punch.

Lukas Foerster

Dieser Text ist zuerst erschienen in: www.perlentaucher.de

Chernobyl Diaries
USA 2012 – Regie: Bradley Parker – Darsteller: Devin Kelley, Jonathan Sadowski, Ingrid Bolsø Berdal, Olivia Taylor Dudley, Jesse McCartney, Nathan Phillips, Dimitri Diatchenko, Milos Timotijevic, Milutin Milosevic – FSK: ab 16 – Länge: 85 min. – Start:21.6.2012 

 

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