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Cahier africain
„Noch bevor über die Taten des letzten Krieges gerichtet ist, nimmt das
Gericht in Den Haag die Ermittlungen im aktuellen Konflikt auf.“ Dieser durchaus
frustrierende Befund gibt den Kammerton des Dokumentarfilms von Heidi Specogna
vor. Es überrascht deshalb nicht, dass es zu einer kurzen Wiederbegegnung
mit dem kongolesischen Politiker Jean-Pierre Bemba kommt, dessen Verfahren vor
dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag sich Specognas Film „Carte
blanche“ (fd 41 059) widmete. „Carte blanche“ erzählte auch davon, wie
juristische Teams in die Zentralafrikanische Republik entsandt wurden, um dort
Spuren zu sichern und Zeugen der Kriegsverbrechen wie systematische Massenvergewaltigungen
zu befragen, für die Bemba verantwortlich gemacht wurde.
Genau hier setzt „Cahier africain“ ein: „Cahier meint ein Schulheft. Es ist mit Kindheit verbunden. Am Anfang ist es leer und wird dann gefühlt. Ja, Jamal hat ,gefühlt‘ geschrieben. Gefühlt mit ,h‘.“ Noch vor den ersten Bildern spricht die Filmemacherin aus dem Off; ihr Sprachduktus erinnert an den Off-Kommentar von Chris Markers „Sans Soleil“ (fd 24 435). Jamal, dessen Gesicht nicht gezeigt werden darf, recherchiert und dokumentiert im Auftrag des Strafgerichtshofs Kriegsverbrechen; Specogna begegnet ihm in der Zentralfrikanischen Republik. Bei dem titelgebenden „Cahier africain“ handelt es sich um ein schmales Heft, das die Opfer von Bembas kongolesischer Befreiungsarme MLC zwischen Oktober 2002 und März 2003 mit Foto und Namen dokumentiert. Das Heft wird als Beweismittel nach Den Haag transportiert und wandert zum übrigen Aktenberg ins Archiv. Wird es noch eingesetzt werden?
Die Filmemacherin trifft auch auf die junge Muslima Amzine, die zu den Opfern gehörte und mittlerweile die zwölfjährige Tochter Fane hat. Das Mädchen Arlette, eine Christin, trug damals eine Schusswunde am Bein davon, wurde lange nicht behandelt und erst spät in Deutschland operiert. Auf dieser sehr konkreten Ebene folgt der Film den drei Protagonistinnen und erzählt von deren Geschichte, den sozialen wie psychischen Folgen der Gewalt. Was bedeutet es für ein zwölfjähriges Mädchen, das durch eine Vergewaltigung gezeugt wurde, wenn die Nachbarn sagen, es sähe aus wie sein Vater?
„Cahier africain“ ist aber auch eine Art Reise-Essay, der den Blick aufmerksam weitet und ständig weiteres Material liefert, das eine brisante Konfliktregion beschreibt und aussagekräftig verdichtet. So begegnet Specogna der Sprecherin einer Opfer-Initiative, die sich selbst als Intellektuelle bezeichnet und schließlich zur Ministerin für Tourismus „weggelobt“ wird. Natürlich unter der Bedingung, dass sie ihr bisheriges Engagement ruhen lässt. „Eine afrikanische Karriere“, merkt die Filmemacherin lakonisch an und fügt hinzu: „In dem Bildrahmen (hinter dem Schreibtisch der Ministerin) wird das Bild des nächsten Putschisten hängen. Und Ministerin Sayo? Sie wird im ausgefransten Bildrand der Geschichte verschwinden – und danach ebenso die Spendenkasse der Opfer-Organisation.“
Während die Wunden der Jahre 2002/2003 langsam heilen, erzählen Berichten von einer muslimischen Rebellion im Norden des Landes. Marodierend zieht die Soldateska durchs Land. Der Putsch gelingt, der Rebellenführer ernennt sich zum Präsidenten. Auf den Straßen liegen Leichen. Eine christliche Miliz leistet Widerstand. Der Kreislauf der Gewalt geht in die nächste Runde. Eine Übergangsregierung wählt eine Übergangspräsidentin. Hubschrauber kreisen. Eine UN-Schutztruppe versucht, die Konfliktparteien zu trennen, doch längst hat eine Fluchtbewegung eingesetzt. Die Schulen sind geschlossen, weil das Leben in der Hauptstadt Bangui zu unsicher geworden ist. Wer kann, bringt sich in Sicherheit, doch die Familie von Amzine wird in den Wirren getrennt.
„Cahier africain“ registriert die Ratlosigkeit, die Erschöpfung in den Gesichtern, auch die Angst und den Fatalismus, wobei die Kamera von Johann Feindt immer wieder großartige Lösungen zwischen Nähe und Distanz findet. Hier, auf einer Ausfallstraße der Hauptstadt, könnte der Film enden, doch Specogna wählt eine Alternative, die vielleicht auch „Afrika“ beschreibt. In einem dritten Kapitel mit der Überschrift „Ein neuer Tisch“ begegnet man erneut Amzines Familie. Im Tschad, wohin sie sich durchgeschlagen und wiedergefunden haben. Ihre provisorische Hütte erhält irgendwann eine Plane gegen den Regen. Amzine kauft ein Stück Land und will einen Laden eröffnen. Ein erstaunlicher Pragmatismus. Nach langer Zeit lächelt hier endlich wieder jemand in die Kamera.
In seinem Buch „Ausgang aus der langen Nacht“ schreibt Achille Mbembe: „Afrika wird mittlerweile mehrheitlich von potenziellen Durchreisenden (Passanten) bewohnt. Angesichts von Plünderungen, unzähligen Formen der Habgier, Korruption, Krankheit, Piraterie und zahlreichen Vergewaltigungserfahrungen sind sie bereit, ihrer Heimat den Rücken zu kehren – in der Hoffnung, sich anderswo neu zu erfinden und neue Wurzeln zu schlagen.“ „Cahier africain“ scheint diese Beobachtung exemplarisch zu illustrieren. Wer in der aktuellen Flüchtlingsdebatte davon spricht, die Ursachen der Migration an ihrem Ursprung zu bekämpfen, findet in diesem eindrucksvollen Film ein ungeschöntes Bild dessen, wovon überhaupt die Rede ist.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen in: filmdienst 23/2016
Cahier africain
Schweiz/Deutschland 2016 – Produktionsfirma: PS Film/Filmpunkt – Regie: Heidi Specogna – Produktion: Peter Spoerri, Stefan Tolz – Buch: Heidi Specogna – Kamera: Johann Feindt – Musik: Peter Scherer – Schnitt: Kaya Inan – Start(D): 10.11.2016 – 123 Min. – FSK: ab 0; f – Verleih: déjà-vu film
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