zur startseite
zum archiv
zu den essays
Blue Jasmine
Nackt trotz Chanelkostüm
Woody Allen gibt sich bei seiner Rückkehr nach Amerika unversöhnlich. Cate Blanchett erweist sich dabei in "Blue Jasmine" als seine unübertreffliche Muse.
Jasmine (Cate Blanchett) war einmal jemand: die Frau eines superreichen
Immobilien- und Börsenspekulanten (Alec Baldwin legt ihn als gänzlich
charmebefreite Schwundform seiner Serienfigur Jack Donaghy aus "30 Rock"
an), der des embezzlement für schuldig befunden und flugs enteignet wurde.
Leichte Spoilerwarnung: Was weiter mit ihm geschieht, gilt dem British Board of Film Classification als kennzeichnungspflichtig. Nun jedenfalls steht Jasmine in einem
von Karl Lagerfeld entworfenen Chanelkostüm vor der Tür ihrer mittellosen
Adoptivschwester Ginger (Sally Hawkins), einen Vuitton-Koffer mit den letzten
ihr verbliebenen Habseligkeiten in der Hand. Die in Rückblenden nach und
nach entfaltete Vorgeschichte zu dieser von komödiantischem Potenzial strotzenden
Ausgangssituation handelt vor allen Dingen von der Figur, die Cate Blanchett
in ständig wechselnder Garderobe macht: Aus dem Ausstattungsaspekt lässt
sich eine ganze New Yorker Bürgerswelt herleiten.
Obwohl es Woody Allens neuer Regiearbeit ihren Prämissen nach
durchaus gegeben wäre, schafft "Blue Jasmine" fast überhaupt
keine komische Abhilfe. Der soziale Abstieg seiner Protagonistin verläuft
langsam, aber stetig, unterbrochen nur durch die bezeichneten Flashbacks aus
einem früheren Leben, Aufstieg und Fall des Finanzstandorts Manhattan.
Auch dann, wenn Jasmine sich wider Erwarten in einen jungen, gutaussehenden
Angestellten des State Department mit Aussicht auf einen Diplomatenjob in Wien
und eine spätere Karriere in Washington verliebt (Peter Sarsgaard spielt
ihn als stil- und klassenbewussten Übersympathen); selbst dann noch, wenn
dieser neusachliche Mr. Darcy ihr tatsächlich einen Heiratsantrag macht,
der allen ihren Sorgen ein jähes Ende zu bereiten verspricht, scheint Jasmines
Lage rettungslos. Zu beschädigt ist ihr Leben, als dass es ihr noch eigentlich
möglich wäre, anderen zu begegnen.
Weitere Optionen auf eine Versöhnung des Kinos mit der Wirklichkeit
– andere Genres, andere Szenarien – werden angespielt, stellen sich aber ein
ums andere Mal als falsche Fährten, falsche Hoffnungen, falsche Ideologien
heraus. Der Passionsweg von der Park Avenue zur Parkbank kennt nur eine Richtung:
abwärts. Die Romcom, der Bildungsroman, die Familienaufstellung, alle diese
narrativen Formatierungen von Jasmines Lebenskrise werden kurz aufgerufen, dann
aber umgehend wieder verworfen. Das geht so lange, bis wir lernen, unsere Grunderwartungen
nach unten zu korrigieren: "Blue Jasmine" erzieht zur Bescheidenheit.
Je weiter der Film voranschreitet, desto weniger wagt man zu hoffen: Erst hoffen
wir noch, dass Jasmine sich neu erfinden, dann dass sie auch nur einen kleinen
Moment von geglückter Intimität erleben, und schließlich lediglich,
dass sie nicht auf der Straße enden möge.
Die existenzielle Geworfenheit, die der mittlere Allen mit manchmal
kitschigen Bergmanbildern zu kitten suchte, erfährt in diesem Spätwerk
eine materialistische Umdeutung zur sozialen Verwerfung. Und auch die Filmsprache
hat sich seither gewandelt: Der ambitioniert melancholische Tonus von Allens
mittlerer Schaffensperiode ist einer inszenatorischen Reife und Routine gewichen,
die einfach und zweckmäßig ist, Jasmines Blues-blauer Traurigkeit
darum aber auch keine Linderung verschaffen kann. Entzauberung ist nicht zuletzt
auch ein (film-)ästhetisches Programm.
Leitmotiv dieser Entzauberung ist Cate Blanchetts Gesicht, in der letzten Einstellung von "Blue Jasmine" ist es ohne Schminke zu sehen. Das dachte ich jedenfalls, bis mich ein Leserbrief in der aktuellen London Review of Books eines Besseren belehrte: "Blanchett had products applied to her hair to make it look wet, and a proprietary mix of products applied to her face to make her look distressed and haggard." Distressed and haggard: das beschreibt sehr genau den neuen Realismus des Woody Allen, der mit Cate Blanchett seine unübertreffliche Muse gefunden hat. Sie vollbringt mimische Balanceakte am Rand des Nervenzusammenbruchs, die einen Menschen meinen, dem man gerade die Charaktermaske vom Gesicht gerissen hat: nackt trotz Chanelkostüm. Vor allem auf dieser kreatürlichen Ebene stellt sich Empathie ein, während das trophy wife des Drehbuchs bis zuletzt wenig Anknüpfungspunkte bietet: keine Entwicklung, keine Einsicht, keine Erlösung. Trotzdem empfindet man mit ihr oder doch ganz nahe bei ihr. Am Ende bleibt ein Gefühl tiefer Traurigkeit: Woody Allen, der von seinen europäischen Koproduktionseskapaden zurückgekehrte Sohn, ist unversöhnlich.
Nikolaus Perneczky
Dieser Text ist zuerst erschienen in: www.perlentaucher.de
Blue Jasmine
USA 2013 – 98 Minuten – Kinostart(D): 07.11.2013 – FSK: ab 6 Jahre – Regie:
Woody Allen – Drehbuch: Woody Allen – Produktion: Letty Aronson, Stephen Tenenbaum,
Edward Walson – Kamera: Javier Aguirresarobe – Schnitt: Alisa Lepselter – Darsteller:
Peter Sarsgaard, Cate Blanchett, Alden Ehrenreich, Alec Baldwin, Bobby Cannavale,
Michael Stuhlbarg, Louis C.K., Kim Kopf, Sally Hawkins, Max Casella
zur startseite
zum archiv
zu den essays