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Bloody
Sunday
Ein Samstagabend im Januar 1972: „Derry
Civil Rights Association" steht in blauen Buchstaben auf dem Tuch. Die
Atmosphäre im Gemeindesaal ist erhitzt, aber voller Hoffnung. Die Bürgerrechtler
vor dem Banner bekräftigen ihren Plan, in einer friedlichen Demonstration
gegen die soziale und wirtschaftliche Benachteiligung der Katholiken in Nordirland
zu protestieren. Wenige Stunden später hat sich das Transparent rot gefärbt.
Darunter liegt ein Mann, von einer Gewehrkugel in den Kopf niedergestreckt.
Aus dem Banner ist ein Leichentuch geworden. Wie dieser harmlose Demonstrant
sterben 13 Menschen am 30. Januar 1972 im Stadtzentrum von Derry, erschossen
von britischen Fallschirmjägern. Die Überlebenden werden ihn Blutsonntag
nennen, den Tag, an dem der Nordirlandkonflikt endgültig und unumkehrbar
eskalierte.
Paul Greengrass erzählt die wahre
Geschichte nach, ohne Sentimentalität, frei von Pathos und ohne den muffigen
Geruch von Geschichtslektion. Mit „Flug
93", dem Film über
das am 11. September 2001 in Pennsylvania abgestürzte Flugzeug, hat Greengrass
einem breiten Publikum demonstriert, welchen unheimlichen Sog eine auf das „Dokumentarische"
skelettierte Handlung entfalten kann. Erprobt hatte der Brite diesen Stil der
Unmittelbarkeit bereits zuvor in „Bloody Sunday" und gewann damit auf der
Berlinale 2002 den „Goldenen Bären". Vier Jahre später wurde
der Film auf arte gezeigt, erst jetzt läuft er regulär in den deutschen
Kinos an. Spät und doch nicht zu spät: Im zehnten Jahr der von Tony
Blair zur Wahrheitsfindung eingesetzten „Saville Inquiry" ist noch immer
kein abschließendes Urteil zu den Geschehnissen gesprochen.
Greengrass macht indes aus seiner Haltung
keinen Hehl. Den befehlshabenden Major seiner Majestät schildert er als
kalten Zyniker, der die Friedhofsruhe nach dem Massaker in seinem Sinn deutet:
„Immerhin scheint Londonderry heute still zu sein. Wir sind einen Schritt weiter
in Richtung Gesetz und Ordnung gekommen." Seine Soldaten zeigt der Film
als kopflose Kampfmaschinen, die im Verlauf ihres Einsatzes auf alles schießen,
was sich bewegt. Ob die Fallschirmjäger oder die Heckenschützen der
IRA das Feuer eröffnet haben, lässt der Film jedoch offen. Greengrass’
ganze Sympathie gilt dem protestantischen Politiker Ivan Cooper, der sich den
mehrheitlich katholischen Bürgerrechtlern angeschlossen hat, sowie einer
weiteren Figur, die zwischen die Fronten gerät: Der halbwüchsige Katholik
Gerry liebt ein Mädchen, das aus dem protestantischen Sektor der Stadt
stammt. Am Ende ist Gerry tot. Seine Kumpels schließen sich der „Irish
Republican Army" an. Und Cooper hält die Trauerrede auf die Bürgerrechtsbewegung.
„Dies ist der größte Sieg, den die IRA je erleben wird", fügt
er bleich hinzu.
Die von Handkamera-Einsatz, schnellen
Schnitten und jähen Orts-Sprüngen bestimmte Ästhetik lässt
die Spielszenen wie aus Fernsehdokumenten herausgeschnitten wirken. 24 dramatische
Stunden im Leben der Bewohner von Derry werden zu einem überwältigenden
Szenario der Eskalation gerafft. So lässt Greengrass die Handlung zwischen
dem Demonstrationszug, der Kommandozentrale der britischen Militärführung
und dem Standort der Fallschirmjäger wie gehetzt hin und her taumeln. Wie
im Fall von „Flug 93" wird damit jede Art von Überblick bewusst unterbunden.
Die Wackelkontakt-artigen Ab- und Aufblenden, mit denen Greengrass die Schauplätze
und Szenen eher separiert denn verbindet, machen die gestörte Kommunikation
zwischen den verschiedenen Gruppen sinnfällig. Spätestens zur Halbzeit
des Films – die Demo fällt auseinander, Steine fliegen, Wasserwerfer und
Tränengas kommen zum Einsatz, erste Schüsse fallen – überträgt
sich das fatale Gefühl von Orientierungslosigkeit auch auf den Zuschauer.
Schwer erträglich sind die Momente blutiger Gewalt. Zu cineastischen Orgien
missraten sie nie. Das gezeigte Maß an Brutalität ist unumgänglich,
denn es öffnet die Augen für das Leid der Opfer. Diese Perspektive
wird im „Geschichtskino" immer seltener. Im Gegensatz zu vieldiskutierten
Täterfilmen wie „Der
Untergang" und „Der
Baader-Meinhof-Komplex"
bietet „Bloody Sunday" das Gegenprogramm, das unser Kino braucht.
Jens Hinrichsen
Dieser Text ist zuerst erschienen in: film-Dienst
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Bloody
Sunday
Großbritannien / Irland 2002 – Regie: Paul Greengrass – Darsteller:
James Nesbitt, Allan Gildea, Gerard Crossan, Mary Moulds, Carmel McCallion,
Tim Pigott-Smith, Nicholas Farrell, Christopher Villiers, James Hewitt – FSK:
ab 12 – Fassung: O.m.d.U. – Länge: 107 min. – Dt. Start: 15.7.2004 / 13.11.2008
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