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Der
Biber
Es ist schon länger her, dass man behaupten konnte, man müsse in Hollywood
nur einen Kranken spielen, um einen „Oscar“ zu bekommen. Ob Autismus („Rain
Man“, fd 27 420), Lähmung („Mein linker Fuß“, fd 28 104), Schizophrenie
(„Psycho“, fd 9570) oder Alkoholismus („Leaving Las Vegas“,
fd 31 893): meist waren spektakuläre Darstellungen kranker Menschen mit
viel größeren Geschichten verbunden, ganz so, als traue man der Krankheitsdarstellung
nicht, für sich allein an den Kinokassen zu überzeugen. Was wohl eine
richtige Einschätzung ist, denn nimmt man eine Krankheitsdarstellung zu
leicht, etwa als Stoff einer vermeintlich tabulosen schwarzen Komödie („Die
Kunst des negativen Denkens“, fd 38 899), oder zu ernst („Helen“, fd 39 605),
entpuppte sich beides schon als wenig kassentauglich. Im Falle von „Der Biber“
zeigten sich alle Schwierigkeiten, die Hollywood mit einem solchen Stoff hat.
Das Drehbuch von Kyle Killen kursierte jahrelang zwischen den Studios und
gewann 2008 sogar einen Preis als das beste nicht-realisierte Drehbuch, doch
erst der Produzent Steve Golin, der originelle Stoffe wie „Being John Malkovich“
(fd 34 219) und „Vergiss mein nicht!“ (fd 36
491) realisiert hatte, ging das Wagnis ein. Der Stoff ist tatsächlich ein
Wagnis, dessen „Offbeat“-Qualitäten durchaus in Camp umschlagen könnten,
schließlich läuft der Protagonist Walter Black über weite Strecken
des Films mit einer sprechenden Handpuppe durch den Film. Und es handelt sich
dabei nicht oder nur sehr bedingt um eine Komödie. Selbst mit einer Starbesetzung
wagt sich „Der Biber“ sehr weit aus dem Terrain des üblichen realistischen
Erzählens heraus; ohne Starbesetzung wäre der Film wohl verloren.
An dieser Stelle kommen die Darsteller ins Spiel. Intelligenz-Ikone Jodie Foster
verliebte sich in das surreale Potenzial des Drehbuchs und signalisierte Interesse
an der Regie. Foster, die bislang nur zweimal Regie führte – „Das Wunderkind
Tate“ (fd 29 356) und „Familienfest und andere Schwierigkeiten“ (fd 31 797)
–, genießt in Hollywood den Ruf vollständiger Unabhängigkeit.
Sie gilt zudem als Spezialistin für komplexe Familiendynamiken. Erst ihr
Interesse an „Der Biber“ brachte das Projekt ins Rollen.
Walter Black, Geschäftsmann in der Spielzeugproduktion und Familienvater, leidet unter schweren Depressionen, die ihn von seiner Familie entfremden und ein Berufsleben völlig unmöglich machen. Als sich seine Ehefrau erschöpft von ihm trennt, changiert seine Leben zwischen Alkohol und Selbstmordgedanken. Eines Tages findet er im Müll eine Biber-Handpuppe, die es ihm erlaubt, durch die Figur hindurch einen alternativen Zugriff auf die Realität zu etablieren und so eine Rückkehr in den Alltag zu bewerkstelligen. Das Alter Ego gewährt Walter eine zweite Chance, ist allerdings für seine Umwelt gewöhnungsbedürftig. Allerdings sind Walters Fortschritte einer neuen Handlungsautonomie teuer erkauft durch seine Abhängigkeit vom „Biber“, der von einem bestimmten Zeitpunkt an leugnet, eine Handpuppe zu sein. Seine teilweise Befreiung aus der Dunkelheit der Depression scheint sich Walter mit schizophrenen Schüben erkaufen zu müssen, die letztlich auf einen radikalen Akt der Befreiung zusteuern.
Ganz schön schräg? Eine Neuauflage von „Mein Freund Harvey“
(fd 1367)? Es kommt noch besser. Denn nachdem sich Jodie Foster entschieden
hatte, Regie und weibliche Hauptrolle in Personalunion zu übernehmen, musste
ein Hauptdarsteller gefunden werden, den man nicht auslacht, wenn er sich (fast)
den ganzen Film über mittels einer Cockney-Englisch sprechenden Biber-Handpuppe
verständigt. Jim Carrey? Jeff Daniels? Woody Harrelson? Doch Foster erinnerte
sich eines alten Freundes, mit dem sie 1994 in „Maverick“ (fd 30 845) vor der
Kamera gestanden hatte und dessen Karriere in den vergangenen Jahren eher durch
Alkoholexzesse und antisemitische Ausfälle gekennzeichnet war: Mel Gibson.
Der Actiondarsteller früherer Dekaden hatte zuletzt eher als kontrovers
diskutierter, weil Gewalt fetischisierender Autorenfilmer („Die Passion Christi“,
fd 36 417) denn als Schauspieler von sich reden gemacht. Doch Foster bewahrte
dem Schauspieler und Freund in der Krise die Treue und erkannte, wie viel von
Walter Black in Mel Gibson steckt (oder umgekehrt?). Und auch Gibson scheint
verstanden zu haben, welche Chancen ihm der Film bot, sein aktuelles Image produktiv
zu machen. Spielte er zuletzt in dem dunklen und extrem gewalttätigen „Auftrag
Rache“ (fd 39 772) den Vater eines Polizisten, der den Mord an seiner Tochter
ohne Rücksicht auf sich selbst rächt, so transferiert er jetzt seine
„inneren Dämonen“ ins Genre des Familienfilms. Wobei Foster wiederum darauf
bedacht ist, die surreale Grundsubstanz des Films durch ein Beharren auf Realismus
auszupendeln. Sieht man von einer überflüssigen Verdoppelung des Grundkonflikts
in einer Nebenhandlung mit Walters Sohn Porter ab und ignoriert, dass der Film
unvermittelt Horrorzüge von „Chucky, die Mörderpuppe“ (fd 27 675)
annimmt, dann kann man „Der Biber“ als einen zwar exzentrischen, aber durchaus
originellen Versuch ansehen, angemessene filmische Mittel für das Erzählen
einer eigentlich recht unspektakulären, aber weit verbreiteten Krankheit
zu finden. Mel Gibson, so viel ist sicher, sollte sich am Abend der nächsten
„Oscar“-Verleihung nichts vornehmen.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen in: film Dienst
Der Biber
USA 2010 – Originaltitel: The Beaver – Regie: Jodie Foster – Darsteller: Mel
Gibson, Jodie Foster, Anton Yelchin, Riley Thomas Stewart, Jennifer Lawrence,
Cherry Jones, Zachary Booth, Michelle Ang, Paul Hodge, Jeff Corbett – FSK: ab
6 – Länge: 91 min. – Start: 19.5.2011
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