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BFG – Big Friendly Giant


 

Alter Traumfänger

Kino Steven Spielberg verfilmt Roald Dahl in „BFG – Big Friendly Giant“ auch als Reprise von „E.T.“

Wenn man von jemandem erwarten mag, er könne alten Kinozauber in die Welt des digitalen Entertainments retten, dann von Steven Spielberg. Erneut arbeitet Spielberg in "BFG – Big Friendly Giant" mit einer Technik, die Schauspieler in computeranimierte Wesen verwandelt, ohne deren Eigenheiten zu veräußern. Die Performance Capture lässt hier mehr Raum für Stimmung und Tiefe, als das in der Comicverfilmung "Die Abenteuer von Tim und Struppi" 2011 der Fall war; Spielberg scheint bewusst gegen die Atemlosigkeit des ersten Versuchs anzuarbeiten, was zumindest halb gelingt. Wenn es passt, wird auch eine altmodische Rückprojektion eingesetzt.

Das Geplünderte und Gesamplete steht neben der eigenen Erfindung, und für einmal, so scheint es, nimmt Spielberg seine Lust am unbändigen visuellen Storytelling zurück, ganz so, als hätte da eine innere Stimme geflüstert: Lass dir Zeit, Steven, gib dich einfach einer Einstellung, einer Dekoration, einem Mienenspiel hin.

Die innere Verwandtschaft des neuen Films zu "E.T." fällt bald auf – in der Beziehung von Kind und „Monster“ (dessen Existenz geheim gehalten werden soll) und bis in den Erzählrhythmus hinein. Das hat mit der Drehbuchautorin Melissa Mathison zu tun, die während der Dreharbeiten verstarb, was dem Abschiedsmotiv eine zusätzliche Note verleiht. Manchmal senkt sich Melancholie so sehr über Steven Spielbergs "BFG", dass man das Gefühl haben mag, es sei nicht nur das erste wirkliche Märchen, das er filmte, sondern auch das letzte. Aber dann ist da dieses verschmitzte Lächeln, der wache Blick, die Rückkehr von unbändiger Lebensfreude, die Mark Rylance auf das Gesicht des freundlichen Riesen zaubert. Und alles ist wieder offen.

Der große Unterschied zu "E.T.", zugleich offensichtlich und bemerkenswert in seiner Konsequenz, besteht darin, dass E.T. ein Kind ist, der BFG aber ein freundlicher alter Mann, während die Heldin ein Mädchen ist, das nicht zufällig Sophie heißt. Es geht um das Wissen, das Wissen-Wollen. Sophie wächst in einem Londoner Waisenhaus der Nachkriegszeit auf. Und eines Nachts greift eine riesige Hand durchs Fenster und holt sie aus ihrem Bett. Entgegen den Befürchtungen handelt es sich nicht um einen Menschenfresser, sondern eben um den freundlichen Riesen, der, wenn man ihn mit seinen Artgenossen vergleicht, gar nicht so groß ist. Und die Entführung ist auch nicht geplant. Sophie muss nur mit ihm kommen, weil sie ihn gesehen hat, wie er nachts mit seiner Trompete durch die Straßen von London zieht, um den Menschen die zu ihnen passenden Träume zu bringen, die er im Traumland (einer Spiegelwelt unter dem See) für sie fängt.

Spätes Understatement

Der freundliche Riese, der genau wie Sophie darunter leidet, unter seinesgleichen so wenig Zuspruch und Verständnis zu finden – die grobschlächtigen Riesen verachten BFG, weil er sich, statt von Menschenkinderfleisch, von stinkigen Gurken (oder sind es einfach Zucchini?) ernährt. BFG, der auf wundersam poetische und komische Art Worte zu verdrehen und neu zu bilden versteht, lebt in seiner Klause und beschäftigt sich mit dem Einfangen und Kultivieren von Träumen. Und da ist ein kleines Geheimnis, das Sophie entdeckt, als die anderen Riesen die wohnliche Höhle des freundlichen Riesen unfreundlich durchsuchen: Sie war nicht das erste bean, die "BFG"-Variante von human being, das BFGs Leben für eine Zeit geteilt hat.

Was geschehen muss, liegt auf der Hand: Die bösen Riesen müssen bezwungen und unschädlich gemacht werden. Dazu muss Ihre Majestät, die Königin, von der Existenz der Riesen – oder von der Bedeutung der Träume – überzeugt und das königliche Militär eingesetzt werden. Wie, Militär? Bei Spielberg, der nicht dafür bekannt ist, militärische Lösungen für soziale Konflikte zu propagieren? Wenn man sieht, wie er mit einer cineastischen Geste vom Tisch wischt, was bei anderen Regisseuren zu Destruktions- und Aggressionsorgien geführt hätte (Riesen gegen Kampfhubschrauber!), weiß man, was man an ihm hat. Das Schlimmste, was das Militär hier einsetzt, sind Netze und Gurken (oder sind es doch Zucchini?).

Natürlich sind Assoziationen erlaubt. Sophies Verlust in dieser Zeit, die wir aus den Kulissen und Vehikeln annehmen, führt in die Zeit des Weltkriegs; der BFG wiederum deutet in Richtung irischer Sagengestalten. Grandiose Szenen sind das, wenn sich einer der Menschenfresserriesen Autos als Rollschuhe unter die Füße schnallt und den kleinen Riesen als Spielzeug für seine brutalen Spiele benutzt. Slapstick und die direkte Erfahrung von Erniedrigung und Missbrauch sind da ganz nahe. Man muss lachen und könnte heulen.

Die Erfahrungen von Verlust und Außenseitertum werden in "BFG" auf eine ebenso konsequente wie dezente Weise vermittelt. Es gibt fast nichts von dem, was wir in so vielen Filmen als typisch spielbergianischen Kitsch zu verzeihen gelernt haben. In der Zusammenarbeit mit dem Schauspieler Mark Rylance hat Steven Spielberg für sein Spätwerk eine vollkommen ungewohnte Tugend entdeckt: das Understatement. So wenig dick aufgetragen hat er fast noch nie, und das bei der Vorlage von Roald Dahl, die dafür wahrlich genug Material lieferte. Mit dem Verzicht auf Sentiment und auf ein Übermaß an Action und Effekt hat Spielberg den Raum freigemacht für die intime Geschichte zwischen dem kleinen Mädchen und dem freundlichen Riesen. Oder eben zwischen dem Wissen und dem Träumen.

Vieles in BFG ist Wiederholung und Trauma. Im Buch wird vollkommen klar, dass der freundliche Riese schon mehrfach Kinder entführt hat, die dann von seinen Mitriesen gefressen wurden. Seine Traurigkeit rührt daher, dass er sie nicht retten konnte. Denn in Wahrheit ist das Problem ja nicht, dass es wieder einmal den guten und die bösen (hauptsächlich aber doofen) Riesen gibt, sondern vor allem geht es um die Zusammensetzung von Träumen. Der Big Friendly Giant ist in diesem Sinne auch ein Autor (oder eben ein Filmemacher), der überlegen muss, was man Kindern (oder Menschen) zumuten kann.

So begegnen sich in diesem Film das Wissen in Form eines altklugen, zur Besserwisserei tendierenden, aber auch erfreulich furchtlosen Mädchens und die Fantasie in Gestalt eines verzauselten, ein bisschen auch verzweifelten alten Traumfängers.

Georg Seeßlen

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in: der freitag

Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte

 

  

BFG – Big Friendly Giant
(The BFG) –  USA, Großbritanien, Kanada 2016 – 115 Min. – FSK: ohne Altersbeschränkung – Kinostart(D): 21.07.2016 – Regie: Steven Spielberg – Drehbuch: Melissa Mathison, Roald Dahl – Produktion: Frank Marshall, Sam Mercer, Steven Spielberg – Kamera: Janusz Kaminski – Schnitt: Michael Kahn – Musik: John Williams – Darsteller: Rebecca Hall, Mark Rylance, Bill Hader, Jemaine Clement, Penelope Wilton, Adam Godley, Ólafur Darri Ólafsson, John Emmet Tracy, Ruby Barnhill, Michael Adamthwaite, Marilyn Norry, Callum Seagram Airlie, Andy Thompson, Haig Sutherland, Daniel Bacon – Verleih: Constantin Film Verleih

 

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