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Die Beschissenheit der Dinge 

 

 

 

Warum eigentlich schaut man freiwillig der „Supernanny“ im Fernsehen dabei zu, wie sie fassungslos eine Unterschichtsfamilie dabei beobachtet, wie diese – rauchend, saufend, fernsehend, ständig überfordert schreiend – die Lebenschancen ihres gerade dem Laufstall entwachsenen Nachwuchses verspielt? Warum interessieren Horrorgeschichten um verwahrloste, missbrauchte und zu Tode gequälte Kinder, denen weder Nachbarn, Freunde, Verwandte, Jugendämter und Schulbehörden zu Hilfe geeilt sind?

 

Sensationsgieriger Mittelschichtsvoyeurismus? Distinktionsstrategien von Kleinbürgern, die soziale Abstiegsängste umtreiben? Im Kino geben sich solche Freakshows gerne nostalgisch, erzählen wie „Populärmusik aus Vittula“ (fd 37 448) skandinavische Provinzgeschichten aus den 1960er-Jahren, reisen in weit entfernte Proll-Paradiese nach Mallorca („Ballermann 6“, fd 32 816) oder begeben sich wie dieser Film ins Belgien der 1980er-Jahre, als man damit noch nichts mit dem Namen Marc Dutroux assoziierte. Durch diese raumzeitliche Distanzierung glauben die Macher, die visuell ausgebeutete Verelendung und die menschlichen Abgründen als „Tragikomödie“ verkaufen zu können, wobei nie ganz klar wird, was in diesem Zusammenhang „Tragikomödie“ meinen könnte. Dass man sich über die Freaks und ihre Absonderlichkeiten amüsieren darf, ohne sich für sich selbst schämen zu müssen?

 

Dass die bürgerliche Werteordnung durch Grenzverletzungen und Tabubrüche transzendiert werden könne – wie es in den 1970er-Jahren Filme wie „Themroc“ (fd 18 695) oder „Steelyard Blues“ (fd 20 356) suggerierten –, glaubt heute niemand mehr. So ist es nur konsequent, wenn „Die Beschissenheit der Dinge“ als Rückblick eines erfolglosen Schriftstellers auf seine Jugend im Subproletariat angelegt ist. Gunther Strobbe hat gerade erfahren, dass er eine Frau geschwängert hat, die er nicht liebt, und ahnt, dass er im Begriff steht, die krause Familiengeschichte der Strobbes in dieser Hinsicht fortzuschreiben. Strobbes Hass auf die Welt gründet in seiner eigenen Kindheit und Jugend, als er ohne Mutter in einer Familie aus asozialen Alkoholikern aufwuchs. Mit viel Sinn fürs abstoßende Details und Freude am Type-Casting breitet Felix van Groeningen in seinem Film (nach einem Bestseller von Dimitri Verhulst) die titelgebende Beschissenheit der Dinge aus. Man erlebt Gunthers Jugend in einer dysfunktionalen Familie zwischen fortgeschrittenem Alkoholismus, Bildungsferne und Privatinsolvenz. Was anzuschauen trostlos wäre, schmückt der Film mittels einer Abfolge grotesker Anekdoten betont lustig aus: Haarige Männerkörper lustwandeln vor der Kamera, präsentieren Suff, Bäuche und einfältigste Sexismen. Höhepunkte sind Wettrennen im Nackt-Fahrrad-Fahren und gemeinschaftliche Besäufnisse, bei denen im Rausch schon mal Gunther die Geliebte ausgespannt wird. Gunthers Gefühle zu seinem familialen Umfeld sind zwiespältig: Einerseits gefällt ihm die Geschlossenheit dieses Gefüges, andererseits realisiert er durchaus, dass er durch seine seltsame Familie gesellschaftlich stigmatisiert wird. Doch gegen die drohenden Interventionen der Schulleitung und des Jugendamts zeigen sich die Strobbes souverän resistent.

 

Soll man dieses dröhnende Schwelgen in Alkohol und Körpersäften als „schwarzhumorig“ bezeichnen, weil sich zum aberwitzigen Retro-Chic nebst dem Verzehr roher Bratwürste auch noch ein überkandideltes Faible für die schwermütigen Songs von Roy Orbison gesellen, deren waidwunde Schicksalsergebenheit die harten Strobbes regelmäßig in einen Abgrund von Sentimentalität stoßen? Nein, man muss vielmehr eine gehörige Portion Menschenverachtung und Zynismus mit ins Kino bringen, um einen Abend mit den Strobbes verbringen zu wollen. Dann kann man sich vielleicht auch wie Bolle über Fäkalwitze, platzende Fruchtblasen und die Vorteile von Kathetern beim Kampfsaufen amüsieren. So „sexy“ wie hier hat man das sich langsam, aber konsequent zu Tode Saufen schon länger nicht mehr im Kino vorgeführt bekommen. Nun mag man einwenden, dass das Gezeigte die Erinnerungen eines Schriftstellers sind, eine Fiktion mithin, die vielleicht den Gründen für Menschenhass und Weltekel nachspürt. Doch geht es in „Die Beschissenheit der Dinge“ eben nicht um die Gestaltung einer Begebenheit, in der „der Ernst das Lachen, die Traurigkeit die Freude oder umgekehrt so unmittelbar erzeugt, dass uns die Abstraktion des einen oder des anderen unmöglich fällt“, wie Lessing in der „Hamburgischen Dramaturgie“ die „Tragikomödie“ beschrieben hat; viel eher geht es um einen lustvoll inszenierten, spätpubertären Spaß am Tabubruch, der hofft, auf ein ähnlich gestricktes Kino-Publikum zu treffen, das das Subproletariat zum wohligen Gruseln (miss-) braucht.

 

Ulrich Kriest

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in: film-Dienst

 

Die Beschissenheit der Dinge

Belgien 2009 – Originaltitel: De helaasheid der dingen – Regie: Felix van Groeningen – Darsteller: Kenneth Vanbaeden, Valentijn Dhaenens, Koen De Graeve, Wouter Hendrickx, Johan Heldenbergh, Bert Haelvoet – FSK: ab 12 – Länge: 108 min. – Start: 20.5.2010

 

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