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Berlin 36 

 

 

 

Die Darstellung der Nationalsozialisten in deutschen Historienfilmen erinnert zunehmend an die Auftritte des Krokodils im Kasperletheater. Der NS-Terror ist zum vertrauten Bösen geworden, eine Routine des Schreckens hat sich eingeschlichen, mit ritualisierten Gesten und Sprüchen, inklusive Augenrollen und heruntergezogenen Mundwinkeln. Man hat aber oft den Eindruck, dass in solchen Auftritten eher Pflichtübungen absolviert werden, die kalkulierbare Reaktionen beim Publikum abrufen, um eine Sphäre für das zu schaffen, was die Filmemacher eigentlich interessiert. Der Eindruck der Pflichtübung drängt sich im Fall von „Berlin 36“ vielleicht auch deshalb mit besonderer Deutlichkeit auf, weil die Geschichte, die Kaspar Heidelbach hier erzählt, auf den ersten Blick so wahnwitzig erscheint. Wäre die Handlung einfach erfunden und würde in ihren groben Linien nicht historischen Tatsachen entsprechen, hätte man sie als zu unglaubwürdig abgelehnt: Bei der Olympiade 1936 in Berlin trat mit Wissen der NS-Führung mit Dora Ratjen (eigentlich Horst Ratjen) im Hochsprung der Frauen ein Mann an und verpasste mit dem vierten Platz nur knapp die erwartete Medaille.

 

Bei der als globale Propagandaschau inszenierten Olympiade wurde Ratjen nicht zuletzt deshalb eingesetzt, um Gretel Bergmann besiegen zu können. Diese war Anfang der 1930er-Jahre eine der talentiertesten deutschen Hochspringerinnen. Weil sie Jüdin war, schloss sie ihr Verein nach der „Machtergreifung“ aus. Gretel Bergmann emigrierte nach England und gewann 1934 die britische Meisterschaft. Als die USA mit einem Boykott der Olympiade für den Fall drohte, dass Deutschland keine jüdischen Athleten nominieren würde, zwang man sie zur Rückkehr und integrierte sie in den Kader – nur um ihr die Teilnahme im letzten Moment unter einem Vorwand doch zu versagen. Als „Alibijüdin“ hatte sie ihren Zweck erfüllt und den Amerikanern das willkommene Argument für ihre Teilnahme geliefert.

 

Der Hinweis „Nach einer wahren Begebenheit“ trifft hier gleich dreifach zu. Zum einen, weil es mit den Biografien von Ratjen (der im Film aus rechtlichen Gründen als „Maria Ketteler“ firmiert) und Bergmann eigentlich zwei getrennte Schicksale sind, die jeweils für sich Interesse verdienten, durch die große Schnittmenge der Fakten jedoch eine gemeinsame Verarbeitung nahe legen: Die Vor-Olympia-Zeit mit ihrer Vermischung von Sport und Politik; der deutsche Hochsprungkader, in dessen Trainingslager Bergmann und Ratjen auch noch ein Zimmer teilten. Zum anderen, weil die Formulierung „nach“ auf die große dichterische Freiheit verweist, die sich der Film in diesem Fall nimmt – und zwar durchweg in Richtung einer dreisten Sentimentalisierung und Entpolitisierung der historischen Vorgänge. So bezeichnet der Verweis auf die Fakten auch das größte Manko von „Berlin 36“: dass nämlich die Tatsachen viel interessanter sind als alles, was Heidelbach mit seiner „Dramatisierung“ aus ihnen macht. Immer wieder, vor allem in den Momenten der spärlich eingesetzten Dokumentarausschnitte, ertappt man sich bei dem Gedanken, wie gern man einen Dokumentarfilm über das Ganze gesehen hätte; nie kommt der Spielfilm gegen die Kraft des historischen Materials an. Zudem krankt dieser an einer fragwürdigen Haltung: Der Rassismus des NS-Staats wird zur Zickigkeit unter Sportkonkurrenten minimiert. Auch werden positive Figuren hinzuerfunden, die „Verständnis“ haben, freundlich sind, etwa der von Axel Prahl gespielte solidarische Trainer. Stets sind es nichtjüdische Figuren, die gegen die Machthaber aktiv werden, insbesondere Ratjen/Ketteler. Die vermeintliche Hauptfigur Bergmann hingegen bleibt blass und passiv, ist Spielball im Politschach und prototypisches Opfer.

 

Man fragt sich, was Heidelbach und Autor Lothar Kurzawa im Sinn hatten: Wollten sie Fakten erzählen? Doch warum diese dann verfälscht? Kein Wort verliert der Film darüber, dass insgesamt 21 deutsch-jüdische Sportler ins Trainingslager nach Ettlingen beordert wurden, und über die Umstände, unter denen das geschah. Kein Wort auch über Bergmanns späteren Mann Bruno Lambert, den sie dort kennen lernte. Völlig verfälscht wird die Figur der Bronzemedaillen-Gewinnerin Elfriede Kaun: Sie, nicht Ratjen, war im Vorfeld der Olympiade mit Bergmann auch freundschaftlich verbunden und mied die Jüdin im Gegensatz zu den anderen Konkurrentinnen nicht. Der Film zeichnet sie als NS-Klischee-Mädel und bleibt darin selbst der Ästhetik des Faschismus verhaftet. Vor allem aber ist die angebliche Freundschaft zwischen dem Mann in Frauenkleidern und der Bergmann eine Lüge. Tatsächlich haben sich beide nicht gemocht, Bergmann verweigerte nach 1936 jedes Wiedersehen. Die Schlussszene wird deshalb zur Infamie: Ratjens letzter Hochsprungversuch im Olympia-Finale ist als solidarischer Blickwechsel mit Gretel im Publikum inszeniert: eine Liebesszene auf Distanz. Ratjen reißt die Latte absichtlich, was in der Logik der Inszenierung als Widerstandsakt zu deuten ist – eine reine Erfindung. „Berlin 36“ ist das Beispiel eines Historienfilms, der den Mehrwert, auf Tatsachen zu beruhen, für sich nutzen will, ohne den Preis dafür zu bezahlen: Fakten korrekt oder zumindest angemessen darzustellen. Im Prinzip geht es nur um Entertainment durch Gefühlskitsch vor historischer Kulisse. Dagegen ist bewegend, die reale Gretel Bergmann, die heute hochbetagt in New York lebt, am Ende zu sehen und sprechen zu hören. Diese kurzen Bilder lassen nicht nur alles verblassen, was zuvor zu sehen war, sie wirkten wie eine subtile Form der Exploitation: Die Zeitzeugin, deren kaum bekanntes Schicksal hier angeblich endlich dem „Vergessen“ entrissen wird, soll auch den Film beglaubigen. Einmal mehr soll Gretel Bergmann als Alibi herhalten.

 

Rüdiger Suchsland

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in: film-Dienst

 

Berlin 36

Deutschland, 2009

Produktion: Gemini Film/NDR/Degeto

Produzent: Gerhard Schmidt 

Regie: Kaspar Heidelbach 

Buch: Lothar Kurzawa 

Kamera: Achim Poulheim 

Musik: Arno Steffen 

Schnitt: Hedy Altschiller 

Darsteller: Karoline Herfurth (Gretel Bergmann), Sebastian Urzendowsky (Marie Ketteler), Axel Prahl (Hans Waldmann), August Zirner (Edwin Bergmann), Maria Happel (Paula Bergmann), Franz Dinda (Rudolph Bergmann), Leon Seidel (Walter Bergmann), Thomas Thieme (Hans von Tschammer und Osten), Johann von Bülow (Karl Ritter von Halt), Julie Engelbrecht (Elisabeth "Lilly" Vogt), Klara Manzel (Thea Walden), Robert Gallinowski (Sigfrid Kulmbach), Elena Uhlig (Frau Vogel), Otto Tausig (Leo Löwenstein), John Keogh (Avery Brundage), Angelika Bartsch (Ärztin im Gesundheitsamt) 

Länge: 101 Minuten

Verleih Kino: X Verleih

 

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