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Babycall

 

 

 

Norwegen kann sehr kalt sein


"Wo ist Anders?", fragt eine männliche Stimme eine verletzt am Boden liegende Frau. Mit einer mysteriösen Szene – Rückblende oder Vorgriff, vielleicht – beginnt der neue Spielfilm des Norwegers Pal Sletaune, der vor ein paar Jahren mit dem kontroversen Psychohorror "Naboer" für Aufsehen sorgte. "Babycall" ist zugleich harmloser und ambitionierter, ändert aber auch wiederholt seinen Tonfall und spielt ein doppelbödiges Spiel mit den Konventionen des Films und den Erwartungen der Zuschauer.

Zu Beginn scheint "Babycall" eine Sozialstudie a la "Fish Tank": Anna (Noomi Rapace mal wieder ungebremst intensiv als Schmerzensfrau des skandinavischen Films) und ihr Sohn Anders ziehen in einen anonymen und tristen Wohnblock am Rande Oslo, der ihnen Schutz bieten soll vor dem gewalttätigen Ex-Mann und Vater der Kleinfamilie. Insbesondere Anna wirkt schwer traumatisiert, geht ungern unter Leute, verbarrikadiert sich in der Wohnung, lässt die Vorhänge geschlossen. Man lebt sehr zurückgezogen und fast schon symbiotisch aufeinander bezogen gegen die (potentielle) Bedrohung durch die Außenwelt. Einziger regelmäßiger Kontakt der Rest-Familie sind zwei Sozialarbeiter des Jugendamtes, die allerdings auf der Seite des Täter-Vaters zu stehen scheinen und stets etwas parteilich und respektlos nach dem Rechten schauen.

Wobei irgendwann auffällt, dass Anders’ Sehnsucht nach Normalität wächst. Will er doch nicht länger bei der Mutter im Bett schlafen! Hat er doch beim Spiel einen neuen, schweigsamen Freund kennengelernt, der einen mysteriösen Einfluss auf Anders ausübt. Anna reagiert darauf zunächst mit dem Kauf eines Babyphons, um den Schlaf ihres Sohnes zu kontrollieren. Im Elektromarkt lernt sie den ruhigen Helge kennen, der ihr etwas Sicherheit zu geben scheint. Doch dann hört Anna eines Nachts das Wimmern eines Kindes durch Babyphon. Helge spricht von möglichen Frequenzüberlagerungen. Anna ahnt, dass irgendwo in der Siedlung ein Kind misshandelt wird und beginnt, sich wirklich seltsam verhaltende Nachbarn zu beobachten. Schließlich wird sie Zeugin einer Gewalttat, doch ihr Versuch einzugreifen scheitert.

Was sich jetzt in sozialrealistischer Manier auf eine krude Mischung aus "Tatort" und Horrorfilm einzupendeln scheint, wird immer häufiger durch surreale "Schocks" und "Flashes" verfremdet, die allmählich Misstrauen gegen die Zuverlässigkeit der Erzählperspektive säen. Einmal misstrauisch geworden, kommen einem immer mehr Schönheitsfehler in den Sinn, die – wie zuvor – auf die paranoide Wirklichkeitserfahrung der Protagonistin bezogen werden können. War Anna zunächst nur traumatisiertes Opfer, so wird sie jetzt allmählich unheimlich. Was, wenn die Kinderschreie im Babyphon aus einer anderen Zeit kämen und subjektive Erinnerungen wären?

"Wo ist Anders?" Regisseur Sletaune gelingt über weite Strecken die intelligent gemachte Konstruktion eines verstörenden Schwebezustands zwischen Realität und Wahn, der von David Lynch ("Mulholland Drive"), Stanley Kubrick ("The Shining") oder Rainer Werner Fassbinder ("Despair – Eine Reise ins Licht") inspiriert sein könnte. Dumm nur, dass das Ganze dann schließlich zu etwas führen muss, was den ganzen Aufwand lohnt. Und genau hier liegt die Schwäche von "Babycall"! Die Auflösung der filmimmanenten Spannung wird letztlich durch einen ziemlich platten Coup de theatre geleistet, was nur insofern besticht, weil man den Film jetzt gerne wegen Falschaussage vor Gericht zerren  würde. Die Beweisführung in diesem Verfahren könnte indes wirklich interessant werden: es steht Aussage gegen Aussage!

Trotzdem: neugierig geworden, wie es dem Film gelingen konnte, so viele falsche Fährten zu legen und den Kern der Handlung immer wieder neu zu setzen, macht man die Probe der Wiederholung. Doch beim zweiten Sehen enttäuscht der Film nur noch, weil nicht nur die Cleverness der Konstruktion des unzuverlässigen Erzählens sichtbar wird, sondern auch deren Willkür. Ärgerlich, man hätte schon bei der erste Szene der »richtigen« Handlung stutzig werden müssen! Dumm gelaufen. Muss man jetzt alles, was oben steht, in den Konjunktiv setzen?

Benotung des Films: 3/10 Punkte

Ulrich Kriest

Dieser Text ist zuerst erschienen in der: www.filmgazette.de

 

Babycall
Norwegen / Schweden / Deutschland 2011 – 95 min.
Regie: Pål Sletaune – Drehbuch: Pål Sletaune – Produktion: Turid Øversveen – Kamera: John Andreas Andersen – Schnitt: Jon Endre Mørk – Musik: Fernando Velázquez – Verleih: NFP – Besetzung: Noomi Rapace, Kristoffer Joner, Vetle Qvenild Werring, Stig Amdam, Maria Bock, Torkil Johannes Høeg Swensen
Kinostart (D): 12.07.2012

 

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