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Der Aufsteiger

 

 

 


Le crocodile, c’est moi!

Als Vorspiel eine bizarre Mischung von Heiliger Inquisition und Tierfilm: eine unbekleidete Frau nähert sich in aristokratischem Ambiente einem Krokodil, das nicht sonderlich aggressiv sondern eher träge das Spiel mitspielt und sein Maul öffnet. Sie kann schon, wenn sie unbedingt will, da rein. Muss aber auch nicht. Ein Traum? Wer träumt? Wer ist die Frau? Und wer das Krokodil? Schnitt. Mitten in der Nacht wird der französische Verkehrsminister Bertrand Saint-Jean geweckt. In den Ardennen ist auf vereister Straße ein Bus mit Schulkindern verunglückt und in eine Schlucht gestürzt. Der Minister fliegt mit dem Helikopter zum Unglücksort, um eine erste Stellungnahme für die Medien abzugeben. Unübersichtliche Situation am Unfallort, komplette Überforderung durch Bilder des Schreckens, doch die Worte kommen, gekotzt wird später. Business as usual.

Dumm nur eine Konsequenz des nächtlichen Einsatzes am Unglücksort: denn so fällt für Saint-Jean ein geplanter Auftritt beim Frühstücksfernsehen flach. Ein Kollege vom Koalitionspartner springt ein und sorgt sogleich für Unruhe. In den folgenden Tagen steht nicht der bedauerliche Busunfall, sondern die Privatisierung der Bahn auf der Tagesordnung, in Szene gesetzt als abstraktes Schachspiel, wo entscheidende Züge in den Medien oder zwischen drei gleichzeitigen Telefonaten im Dienstwagen passieren. Der Busunfall, unvorhergesehen, sorgt für etwas Luft im Getriebe der politischen Mechanismen. In diesem konkreten Fall geht es zunächst darum, das Heft des Agenda Setting wieder in die Hand zu bekommen. Saint-Jean gilt nämlich, im Gegensatz zu der ihn umgebenden Politiker-Aristokratie, als Hoffnungsträger, der aufgrund seiner Herkunft als "Aufsteiger" noch eine andere, authentischere Sprache spricht. Was ihn allerdings zunächst lediglich als Kanonenfutter zu prädestinieren scheint. Der Hoffnungsträger wird im Verlauf des Films dabei beobachtet, wie er hakenschlagend und durch immer neue Manöver versucht, wieder in die Vorlage zu kommen. Was wenig mehr bedeutet, als das richtige Telefonat zum richtigen Zeitpunkt zu führen – und die Reaktion des Kontrahenten als die Effekte dieses Telefonats zu antizipieren. Als "Beobachtungsbeobachtung" hat Luhmann das sehr schön beschrieben.

Sieben Jahre hat der Regisseur und Drehbuchautor Pierre Schoeller an diesem Film gearbeitet, um adäquate Bilder und Szenen für "Machtspiele" in der politischen Sphäre zu entwerfen. Sein Film beschränkt sich nicht auf die (dürftige) These des politischen Zynismus, sondern weitet den Blick auf die umfassende De-Legitimierung des Politischen, die entschieden auch ins Private lappt. So bekommt Saint-Jean im Rahmen einer Imagekampagne zur Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen einen neuen Fahrer. Und erhält dadurch eines Tages die Gelegenheit zu einer ungeschützten Begegnung mit dem Volk, der er sich nur durch Vollrausch in haarsträubenden Pragmatismus entziehen kann. Gleiches zeigt sich auch im Verhältnis zu seiner Ehefrau, zu  der Saint-Jean einmal sagt: "Du kennst mich nicht, deshalb liebst du mich." "Der Aufsteiger" erzählt auf beklemmende und sehr kalkulierte Weise vom Verlust der Ideale und der prinzipiellen Einsamkeit in der Sphäre des Politischen, in der buchstäblich jedes Ereignis, jedes Unglück noch quasi systemisch »politische« Effekte produziert. Als Saint-Jean schon gescheitert scheint, passiert ein zweiter Unfall, der die Karten neu mischt.

Interessanterweise sehen die Bilder, die Schoeller für dieses Ereignis findet, so aus, als habe er sie im Schneideraum von "Walking Dead" gefunden. (Okay, da wurde nicht mehr altmodisch »geschnitten«!)  Um zu begreifen, wie gelungen dieser vergleichsweise kalte und analytische Film ist, sollte man an jene Szene denken, in der Kabinettsleiter Gilles – er keineswegs ein Parvenü, sondern ein intellektueller Politiker mit Geschichte – in einer ruhigen Stunde dabei gezeigt wird, wie er sich per Schallplatte die Hymne von André Malraux auf den zu Tode gefolterten Widerstandskämpfer Jean Moulin anhört. Das ist in etwa die Fallhöhe, um die es Schoeller geht, der allerdings kein Nostalgiker, sondern ein Analytiker ist. Der Lackmus-Test: Man schaue sich Andreas Dresens naive Polit-Soap "Herr Wichmann aus der dritten Reihe" an – und frage sich, wie ein politischer Film 2012 idealerweise anzusehen habe. Wie "L’exercice de l’Etat" (Originaltitel) nämlich.

Benotung des Films: (9/10)

Ulrich Kriest

Dieser Text ist zuerst erschienen in der: www.filmgazette.de

Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte

Der Aufsteiger
OT: L’exercice de l’état
Frankreich / Belgien 2011 – 115 min.
Regie: Pierre Schoeller – Drehbuch: Pierre Schoeller – Produktion: Denis Freyd – Kamera: Julien Hirsch – Schnitt: Laurence Briaud – Musik: Philippe Schoeller – Verleih: Kool – Besetzung: Olivier Gourmet, Michel Blanc, Zabou Breitman, Laurent Stocker, Sylvain Deblé, Didier Bezace, Jacques Boudet, François Chattot, Arly Jover
Kinostart (D): 22.11.2012

 

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