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Attenberg 

Zarte Misanthropie

Athina Rachel Tsangaris hinreißendes Coming-of-Age-Drama "Attenberg" ist typisch für das neue griechische Kino.

Der Zeitpunkt, über ein neues griechisches Kino zu reden, könnte kaum unpassender sein. Die Politik hat dazu beigetragen, dass der Name Griechenland wenig positive Assoziationen weckt. Griechenland steht für Krise, Misswirtschaft, Krawalle auf den Straßen, Fremdenhass. Und damit übergreifend für ein Europa, das sich neu hinterfragen muss. Eine Filmkultur, die aus dieser Gemengelage erwächst, kann eigentlich nichts anderes hervorbringen als ein Kino der Krise. Dass Krisenkino aber keine Katastrophe sein muss, zeigt sich in diesem Frühjahr, weil mit Athina Rachel Tsangaris ebenso großartigem wie skurrilem Coming-of-Age-Drama "Attenberg", für das Ariane Labed 2010 in Venedig mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet wurde, und mit "Alpen" von Giorgos Lanthimos zwei Filme in die Kinos kommen, deren Regisseure viel für das Selbstverständnis des neuen griechischen Kinos getan haben. Lanthimos letzter Film "Dogtooth" (2009) war im vergangenen Jahr für den Oscar nominiert – als erster griechischer Film seit fast fünfzig Jahren.

Filme wie "Attenberg", das Alltagsporträt "Wasted Youth" (2010) von Argyris Papadimitropoulos und Jan Vogel oder Panos Koutras campy Transenliebesgeschichte "Strella" (2009) könnten unterschiedlicher kaum sein. Wenn Tsangaris weiibliche Hauptfiguren Marina und Bella indes mit Stechschritt-Choreografien ihrem Nicht-Einverstanden-Sein Ausdruck verleihen, der junge Skater Haris in "Wasted Youth" auf seinem Rollbrett ziellos die Un-Orte seiner Stadt abklappert und Strella auf High Heels unaufhaltsam durch die Straßen Athens stöckelt, erschließt sich im neuen griechischen Kino eine Dynamik, die unmittelbar ans gesellschaftliche Leben rührt.

Wie machen Menschen das bloß?

"Attenberg" ist charakteristisch für die Temperatur des neuen griechischen Kinos: Reserviert, auf liebenswerte Weise emotional verkorkst, latent soziophob, neugierig und dabei mit einer unwiderstehlichen, rohen Energie ausgestattet. Dem warmen, mediterranen Licht wirkt Tsangari mit analytischer Klarheit entgegen. Ihre Figurenkonstellationen gleichen konzeptuellen Entwürfen mit einer lockeren Distanz zu ihrem Gegenstand. Tsangari beschreibt diesen Abstand als notwendig, um den Blick für die Verhältnisse zu schärfen. Zu große Nähe, sagt sie, mache befangen.

Die Eröffnungsszene von "Attenberg" veranschaulicht Tsangarls Haltung auf rührige Weise. Da stehen sich Marina und Bella vor einer weißen Wand gegenüber, ganz nah, wie in einem Western-Showdown. Bella steckt Marina die Zunge in den Mund. "Wie fühlt sich das an? Du musst atmen, sonst erstickst du", belehrt Bella ihre Freundin. Kusstraining. Marina kennt Balzverhalten nur aus den Dokumentationen des Naturfilmers David Attenboroughs ("Attenberg", wie Bella sagt). Der Umgang mit den eigenen Artgenossen, speziell den männlichen, fällt der 23-Jährigen schwer. "Wie machen Menschen das bloß?", wundert sie sich.

In "Attenberg" wird aufopferungsvoll inszeniert und nachgeäfft, doch Marinas Handlungen sind stiller Protest. Eine deviante Form der Trauerarbeit. Marinas Vater, einziger Verbündeter In ihrer zarten Misanthropie, liegt im Sterben, und ihr letztes Geschenk an ihn ist die körperliche Hingabe an einen anderen Menschen. Weil es mit 23 vielleicht doch mal an der Zeit ist, aber eben auch der Beruhigung des Vaters dient, der sich Sorgen macht um seine Tochter, die bislang nur mit dem Paarungsverhalten von Berggorillas vertraut ist. Und dann schenkt sie ihrem einsamen Vater, den sie sich immer ohne so ein Ding zwischen den Beinen vorgestellt hat, ein letztes Mal – mit Bella, die von Penisbäumen träumt und ohnehin für Marinas Vater schwärmt. Der ultimative Freundschaftsbeweis. "Attenberg" ist mit seinen hinreißend knutschenden, sabbernden, spuckenden, stechschreitenden Hauptdarstellerinnen die schönste Liebeserklärung dieses Kinofrühlings. "Les demoiselles d’Attenberg" sozusagen, nur dass statt der symphonischen Zuckerwatte, die 1967 Jacques Demys "Les demoiselles de Rochefort" süßte, bei Tsangari der Fürst der Entfremdung höchstpersönlich, Alan Vega, auf der Tonspur croont. Vegas entkörperlichter Rock’n’Roll beschreibt zugleich Marines Verhältnis zur Welt. Da ist es nur konsequent, dass genau vier Worte sie vor der inneren Vergletscherung retten: "Alan Vega ist Gott." Marina verliebt sich erst in eine abstrakte Idee von Liebe und später in die konkrete Vorstellung davon.

Das Gefühl der Entfremdung ist so etwas wie das Leitmotiv im neuen griechischen Kino. Lanthimos Filme zum Beispiel erinnern in ihrem kühlen Versuchsaufbau eher an soziologische Experimente. In "Alpen" schlüpfen die Mitglieder einer seltsamen Bedarfsgemeinschaft in die Rollen Verstorbener – die der Tochter, der Geliebten, des besten Freundes. Monte Rosa, die weibliche Hauptfigur, spürt in diesen Re-Enactments einem Gefühl von Wahrhaftigkeit nach, das ihr längst abhanden gekommen ist. Aber alle Ausbruchsversuche aus Lanthimos’ rigiden Wirklichkeitskonstruktionen sind von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Tsangari hingegen hat vor "Attenberg" zehn Jahre in den USA gelebt. Sie beschreibt das Gefühl des Außenseiters als einen essentiellen Zustand. "Als Filmemacherin ist es wichtig, zunächst eine Distanz zu schaffen, um sich ein klares Bild von den Verhältnissen zu machen." Auch Konstantins Glannaris, dessen Migrantenporträt "From the Edge of the City" (1998) Tsangari einen wichtigen Referenzpunkt für das neue griechische Kino nennt, lebte viele Jahre im englischen Exil.

Florierende Mangelwirtschaft

Man könnte den neuen griechischen Film als florierende Mangelwirtschaft beschreiben. Für Tsangari ist die Solidarität untereinander die treibende Kraft. Die widrigen wirtschaftlichen Verhältnisse sind ausschlaggebend für die aufregende Entwicklung im aktuellen griechischen Kino, das gerade zwei Riesenschritte auf einmal nimmt. Während sich die Strukturen noch im Aufbau befinden, wird fleißig weiter produziert – ohne staatliche Förderung, mit Minimalbudgets, in zäher, aufopferungsvoller Kleinarbeit. Die Energien, die bei diesen Arbeitsprozessen freigesetzt werden, sind in den Filmen von Tsangari, Lanthimos & Co. förmlich zu spüren. Kein Wunder, dass das Kino aus Griechenland bei Festivals derzeit so hoch im Kurs steht. Griechenland hat sich lange im Glanz der eigenen glorreichen Vergangenheit gesonnt. Tsangari betrachtet die selbst gewählte Isolation angesichts der derzeitigen Wirtschaftskrise äußerst kritisch. In "Attenberg" bricht es einmal aus dem Vater heraus, als er über die Stadt blickt, die er selbst mitentworfen hat. Aspra Spitia ist ein perverses Konstrukt der sechziger Jahre, eine moderne, dem sozialistischen Ideal nachempfundene Arbeitersiedlung, finanziert vom Industriekapital des damals boomenden Griechenlands. Heute ist sie eineTotenstadt. Sie hätten eine lndustriekolonie auf einer Schafweide errichtet, meint der Vater verbittert. Ein Bild, das bis ins gegenwärtige Kino Griechenlands nachwirkt. Tsangari & Co. haben innerhalb kürzester Zeit vierzig Jahre Filmgeschichte aufgeholt. Dass sie dasselbe Schicksal wie Aspra Spitia ereilt, steht nicht zu befürchten.

Benotung des Films: 9/10

Andreas Busche

Dieser Text ist zuerst erschienen in: pony #73

Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte

 

Attenberg
Griechenland 2010 – 95 min.
Regie: Athina Rachel Tsangari – Drehbuch: Athina Rachel Tsangari – Produktion: Maria Hatzakou, Giorgos Lanthimos, Iraklis Mavroidis, Athina Rachel Tsangari, Angelos Venetis – Kamera: Thimios Bakatakis – Schnitt: Sandrine Cheyrol, Matthew Johnson – Verleih: Rapid Eye Movies – FSK: ab 12 Jahre – Besetzung: Ariane Labed, Evangelia Randou, Vangelis Mourikis, Yorgos Lanthimos, Kostas Berikopoulos, Michel Demopoulos
Kinostart (D): 10.05.2012

 

 

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