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Arrietty – Die wundersame Welt der Borger

 

 




Zwischen wogenden Blumenblüten

 

Fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit ist der neue Film des legendären japanischen Animationsfilmstudios Ghibli in den deutschen Kinos gestartet. Nachdem „Ponyo“, die letzte Regiearbeit des Studiogründers Hayao Miyazaki, die kommerziellen Erwartungen nicht erfüllen konnte, zirkuliert „Arrietty“, für den der Altmeister nur das Drehbuch verfasst hat – Regie führt der Newcomer Hiromasa Yonebayashi -, nur mit gut zwanzig Kopien. Zwischen den omnipräsenten Sommerblockbustern ist da von Anfang an nicht viel zu holen; dass der Film von der Presse fast komplett ignoriert wurde, verwundert aber doch. Schließlich versteckt sich hinter dem unglücklich gewählten deutschen Verleihtitel „Die wundersame Welt der Borger“ ein Stück populäres Kino im allerbesten Sinne.

Die Werke Miyazakis haben spätestens seit den Neunzigern einen Hang zum Expansiven, Ausgreifenden, Barocken, unternehmen Entdeckungsfahrten in komplex ausgestaltete mythische Welten. „Arrietty“ aber findet zur Linearität und scheinbaren Einfachheit von „Mein Nachbar Totoro“, dem möglicherweise Schönsten aller Anime, zurück. Auch „Arrietty“ – basierend auf einer Kinderbuchserie Mary Nortons – nimmt seinen Anfang bei Kindheit und Einsamkeit, die fantastische Welt, die auf dieser Basis entsteht, gewinnt dann aber ein Eigenleben, das nicht mehr auf den psychologischen Maßstab zum Beispiel einer Projektion gebracht werden kann.

Ein Haus im Grünen, ein wenig abseits der Welt, ein Sommer, ein wenig aus der Zeit gefallen, ein junger Protagonist, ein wenig abseits von Gesellschaft und funktionierendem Familienleben; all das schließt direkt an „Totoro“ an. Doch schnell wechselt der Film die Perspektive: Die eigentliche Hauptfigur ist Arrietty selbst; Arrietty ist ein Mädchen, das zu den "Borrowers" gehört. Die Borrowers sind "kleine Menschen", ungefähr daumengroß, die sich in den Häusern der Großen eingerichtet haben und diesen einige Kleinigkeiten für die eigene Existenz entwenden: einzelne Zuckerwürfel, Stecknadeln, Papiertaschentücher, stets nur solche Dinge, deren Verlust nicht bemerkt, die im Maßstab der Großen nicht einzigartig, sondern ohne Probleme ersetzbar sind, die für die Kleinen jedoch zu singulären, existentiell notwendigen Dingen werden. Arrietty wohnt gemeinsam mit ihren Eltern in einem Haus im Haus, einem versteckten Karton, den die drei zum heimeligen Zuhause ausgestaltet haben; direkt vor der Tür lauern Gefahren aller Art.

Der Größenunterschied zwischen kleinen und großen Menschen führt nicht nur zu einer Umwertung der Dingwelt, er prägt den gesamten Film. Aber, das ist das Schöne, nie als bloße Cuteness oder als Pointe, sondern vor allem anderen als Simulation realen Erlebens. Eine lange, ausführliche Szene am Anfang des Films beschreibt einen Streifzug Arriettys mit ihrem Vater durch das Haus der großen "Wirtsfamilie". Der Film nimmt sein Szenario ganz und gar ernst und lädt konsequent die Details der alltäglichen Welt, die im gewöhnlichen Erleben kaum noch wahrgenommen werden, mit einem "sense of adventure" auf: Nägel, die ein wenig aus der Wand ragen, Stromkabel, Klebestreifen und so weiter. Die weiterhin größtenteils klassisch „zweidimensional“ und mit der gewohnten Liebe zum Detail und zu organischen, vielseitigen Texturen animierten Bilder öffnen und schließen sich während dieser Passage so spektakulär, dass die dreidimensionale Konkurrenz von Pixar und Dreamworks im Vergleich reichlich alt aussieht.

Später, wenn auch die "großen Menschen" eine wichtige Rolle im Film zu spielen beginnen, gibt es dann immer wieder ein Spiel mit der Perspektive, am schönsten während der ersten gelungenen Begegnung Arriettys mit dem jungen Sho, dem träumerischen, kränklichen Kind des Hauses: Vorher konnte er stets nur ihren Schattenwurf sehen, jetzt zeigt sie sich ihm vollständig. Sie tritt an das für sie riesenhaft anmutende Kind heran, er dreht seinen Kopf, es folgt ein Schnitt auf seinen point of view, auf eine Nahaufnahme Arriettys zwischen wogenden Blumenblüten, die teilweise größer sind als ihr gesamter Kopf. In dieser wunderschönen Einstellung – unterlegt von der dezent eingesetzten, hypnotischen Filmmusik – scheint der Film Arrietty, das Wunder ihrer bloßen Existenz, aber auch ihre gesamte Persönlichkeit, noch einmal neu zu entdecken.

Die Geschichte ist nicht einmal auf den ersten Blick so einfach und oppositionell strukturiert, wie die Gegenüberstellung von klein und groß glauben machen könnte. „Arrietty“ entwirft, wie so viele andere Ghibli-Filme, eine Welt, die gleichzeitig und oft ununterscheidbar Sozial- und Ökosystem ist, in deren Inneren eher Dialektik als eine transzendente Moral waltet. Das gilt schon für die Struktur der Bilder, für ihre Textur selbst. Von weitem, in der Totalen, ist die Wiese ein impressionistischer Aquarelltraum, aber wenn sich Arrietty und ihre Familie durch sie hindurch schlagen müssen, ist die Lieblichkeit verschwunden, wird jeder Kieselstein zum Hindernis.

Ein Detail macht die alles andere als eindimensionale Beziehung zwischen den beiden Sphären des Films besonders deutlich: Die "großen Menschen" haben für die kleinen, mit den besten paternalistischen Absichten, ein Puppenhaus gebaut, aber das wird nicht als Friedensangebot interpretiert, sondern als Falle. Und vielleicht nicht ganz zu Unrecht, wenn auch aus Gründen, die den Borrowers selbst nicht bewusst sind; schließlich lauert im Puppenhaus die Domestizierung. Die Borrowers setzen statt dessen auf Abschottung von der bei gleichzeitiger Mimikry an die Lebenswelt der Großen, was natürlich in erster Linie auf Selbstdomestizierung hinausläuft. Die Kommunikation zwischen den beiden Parteien scheitert an einem doppelten Missverständnis, das sich bis zum Schluss nicht auflöst. Die sanfte Freundschaft zwischen Arrietty und Sho (ein ausgestreckter Finger, der mit beiden Armen liebevoll-neugierig umfasst wird; das Versteckspiel; der Versuch, einander auf Augenhöhe zu begegnen) bleibt eine Träumerei, die weniger utopisch als melancholisch anmutet.

Mittlerfiguren zwischen den beiden Sphären sind eher die Tiere. Innerhalb der Handlung spielt vor allem eine Katze eine Rolle, daneben haben aber auch jede Menge Vögel, Hunde, Mäuse und vor allem Insekten Kurzauftritte. Die Tiere stehen außerhalb der Differenz, die den Film strukturiert, zumindest insofern, wie diese eine begriffliche ist und gerade deshalb eignen sie sich zu ihrer Überwindung. Für die Tiere ist Arrietty kein kleines Gegenstück zu Sho, sondern beide Elemente einer ungeteilten Erfahrungswelt. Der Angriff eines Raben bringt Sho und Arrietty zum ersten Mal einander näher, Käfer, Schaben und Ameisen bekommen in liebevollen Großaufnahmen eine Materialität, die ihnen Realfilme noch fast immer verweigern (für die Borrowers sind Insekten nicht das Abjekte an der Natur, sondern selbstverständlicher Teil der Umwelt). Aber selbst die intelligente, in manchen Hinsichten lernfähige Katze bleibt eine rätselhafte Kreatur, die an einer anderen Art von Freiheit Teil hat als die sozial determinierte Arrietty und der auch dann kein mit menschlichem analoges Bewusstsein zugeschrieben wird, wenn sie scheinbar altruistisch handelt. In einer der schönsten Szenen des Films läuft eine Kellerschabe über einen Stein, eine andere taucht auf, die beiden reiben sanft ihre Fühler aneinander und verschwinden gemeinsam.

Lukas Foerster

Benotung des Films: (9/10)

 

 

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in der: www.filmgazette.de  

 


Arrietty – Die wundersame Welt der Borger
OT: Kari-gurashi no Arrietty
Japan 2010 – 94 min.
Regie: Hiromasa Yonebayashi – Drehbuch: Hayao Miyazaki, Mary Norton, Keiko Niwa – Produktion: Toshio Suzuki, Soledad Gatti-Pascual – Kamera: Atsushi Okui – Schnitt: Rie Matsubara – Musik: Cécile Corbel – Verleih: Universum – FSK: ohne Altersbeschränkung –
Kinostart (D): 02.06.2011

 

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