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Another Year
In Mike Leighs "Another Year" ist nur ein altes Ehepaar glücklich. Alle anderen wünschen sich ein anderes Leben.
Was würde helfen? "Ein anderes Leben", meint eine Frau fortgeschrittenen
Alters mit leerem, hoffnungslosem Gesicht zu der Therapeutin Gerri (Ruth Sheen).
Die Frau, die keinen anderen Ausweg sieht als ein anderes Leben und also gar
keinen, taucht später im Film nicht mehr auf. Das Gespräch macht schon
am Anfang klar: Nicht alles kann bearbeitet, besprochen, geheilt werden, manchmal
ist einfach alles zu spät. Mehr als ein "Bis nächsten Dienstag"
kann Gerri ihr nicht mit auf den Weg geben.
Gerri und ihr Mann Tom, ein Baugeologe, stehen im Zentrum des neuen Films des Briten Mike Leigh. Ein Großteil von "Another Year" spielt in ihrer gemütlichen Wohnung in London. Das glücklich alternde Paar erhält Besuch von einer Reihe meist weit weniger glücklich alternden Bekannten und Verwandten. Der Sohn Joe taucht auf, zuerst ohne, dann mit Freundin. Gerris Arbeitskollegin Mary macht zunächst einen aufgekratzten Eindruck, aber im Verlauf des Films erwischt es sie am schlimmsten. In Abwesenheit eines Mannes in ihrem Leben kauft sie sich ein kleines, rotes Auto, mit dem sie freilich, schon bevor sie ein Glas Wein nach dem anderen trinkt, kaum geradeaus eine Straße entlang fahren kann.
Lesley Manville (Im Bild in der Mitte) gibt einerseits eine Bravourvorstellung als Mary: Ihr Spiel besteht aus kleinen, nervösen, stets leicht exaltierten Bewegungen, als suche sie in jedem Moment aufs neue nach dem auf sehr grundsätzliche Art verloren gegangenen richtigen Verhältnis zu ihrer Umgebung. Andererseits bleibt Manvilles Spiel als Technik sichtbar, drängt sich in den Vordergrund und kommuniziert auf Dauer doch vor allem die eigene Brillanz. Insoweit das ein Problem ist, ist es allerdings eines des gesamten Films. Manvilles Spiel unterscheidet sich nur graduell, nicht grundsätzlich, von dem der übrigen Castmitglieder. Wer – wie tendenziell auch der Rezensent – allergisch reagiert auf ausgestellte Schauspielkunst, der wird wohl ganz allgemein mit dem psychologischen Realismus des Mike Leigh nicht völlig glücklich werden.
Dann gibt es Ken, einen Jugendfreund des Ehepaars, der einen denkbar ungesunden Lebensstil pflegt. Wenn er raucht, scheint er die Zigarette, die viel zu klein ist für seine massive Hand, gleich verschlucken zu wollen. Er isst viel und alles außer Salat, sein Alkoholproblem ist noch offensichtlicher als das Marys. Überhaupt ist "Another Year" auch ein Film über den strukturellen Alkoholismus des britischen Mittelklasse, da wird mehr gesoffen als beim Südkoreaner Hong Sang-soo. Kens T-Shirt-Aufschrift bringt das Problem gerade deshalb auf den Punkt, weil sie nicht stimmt: "Less thinking… more drinking". Wenn das klappen würde, gäbe es in der Tat in der Welt Mike Leighs weniger Probleme, leider funktioniert die Gleichung nicht, das erfährt insbesondere Mary wieder und wieder.
Leighs Film schreibt die Begegnungen des Ehepaars mit diesen und einigen anderen Figuren auf recht konventionelle, aber deswegen nicht uninteressante Art in den Fluss des täglichen Lebens ein. "Another Year" verwendet die vier Jahreszeiten als Ordnungsprinzip. Wie nicht wenige andere Autorenfilmer sucht Leigh eine formale Rundung, eine Idee von Totalität nicht in der Schließung des Plots, der dem Leben gegenüber offen bleiben muss, sondern im zyklischen Fortschreiten der Zeit. Dem Ehepaar als Refugium und zugleich dem Film als organische Kontrastfolie zu den Verwerfungen im Beziehungsgeflecht dient ein Schrebergarten am Stadtrand, dessen Bewirtschaftung "Another Year" durch einen Erntezyklus – vom Frühling bis in den Winter verfolgt.
Jeder der vier Abschnitte weist ein leicht unterschiedliches Beleuchtungsschema auf, wobei vor allem die abschließende Winterepisode ästhetischen Eigenwert gewinnt und dem Film noch einmal eine interessante Wendung verschafft. Hier wechselt "Another Year" zunächst den Schauplatz; das Ehepaar besucht gemeinsam mit seinem Sohn Toms Bruder Ronnie, der in einer kleinen, karg eingerichteten Arbeiterwohnung in Derby lebt. Das kalte, bläuliche Licht, in das die gesamte Sequenz getaucht ist, passt sehr gut zu Ronnie und den Überresten seiner proletarischen Biografie, von denen er umgeben ist. Zwar kommt auch Ronnie dann auf eine Weile mit ins heimelige Mittelklasse-London. Aber Tom und Gerris bürgerliche Heimstatt gewinnt in den Szenen in Derby ein Außen, das doch etwas anderes ist als nur die gezähmte, parzellierte Natur des Schrebergartens.
Lukas Foerster
Dieser Text ist zuerst erschienen in: www.perlentaucher.de
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Another Year
Großbritannien 2010 – Regie: Mike
Leigh – Darsteller: Jim Broadbent, Ruth Sheen, Lesley Manville, Oliver Maltman,
David Bradley, Karina Fernandez, Martin Savage, Peter Wight, Imelda Staunton,
Phil Davis – FSK: ohne Altersbeschränkung – Länge: 129 min. – Start:
27.1.2011
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