zur startseite

zum archiv

zu den essays

Anna Karenina


Opernhaftes Gesamtkunstwerk statt Gesellschaftskritik: Joe Wrights Neuverfilmung von Leo Tolstois Romanklassiker Anna Karenina mit Keira Knightley und Jude Law.

Tolstois "Anna Karenina" gilt vielen als Roman der Romane, ein Werk, in dem alles aufgehoben ist, was diese so eng mit dem realistischen Erzählen verbundene Gattung kann. Die Liebesgeschichte der mit einem hohen Beamten verheirateten Anna Karenina und des Grafen Vronski findet vor dem detailliert entworfenen Hintergrund einer sich allzu langsam verändernden Gesellschaftselite statt. Jedes Schicksal ist auch eine Option und zeigt, wie es mit dem Zusammenleben weitergehen könnte. Von dieser spätadeligen oder frühbürgerlichen Selbstvergewisserung ist die jüngste Verfilmung durch Joe Wright denkbar weit entfernt. Der britische Regisseur sucht auch gar nicht groß nach Aktualisierungsmöglichkeiten, die ohnehin am ehesten in der Figur des Gutsbesitzers Lewin zu finden wären, den man sich gut als Nobelbiobauern in der Uckermark vorstellen könnte. Im Gegenteil macht Joe Wright von Beginn an klar, dass er nicht in erster Linie realistisch erzählen, sondern eine große ästhetische Produktion hinstellen will. Anders ausgedrückt: Er macht Theater mit dem Hang zum Gesamtkunstwerk.

Wir betreten diese Version von "Anna Karenina" nicht auf die altmodische Weise, also im Grunde unmerklich; stattdessen führt uns Joe Wright aus einem Zuschauerraum in eine Bühnenwelt, beinahe so, wie es Jean Renoir in seinem Spätwerk "Die goldene Karosse" getan hat (und damit nicht nur vollstes Verständnis fand). In dieser Epoche des künstlerisch hochwertigen Nachkriegskinos, bei Max Ophüls ("Lola Montez") oder eben Renoir, liegen die Bezugspunkte für Joe Wrights "Anna Karenina", und wie so viele ehrgeizige Literaturverfilmungen hat auch diese einen Höhepunkt bei einem Ball. Hier gibt es den ersten Kontakt zwischen der Karenina und dem Fürsten Vronski, der doch eigentlich viel besser zu der jüngeren Kitty passen würde, für die sich wiederum Lewin mit unbeholfenem Ernst interessiert.

Im Roman sind die Triebschicksale für die Langstrecke gedacht, im Film hingegen läuft alles auf ständige große Auftritte hinaus, von denen manche durchaus introvertiert sind. Jude Law in der Rolle des altmodischen Karenin legt fast sein ganzes Rollenprofil in einen Tick mit den Fingern, der seiner Frau allmählich zum riesigen Ärgernis wird. Der methodische Gleichmut, mit dem Karenin die ehelichen Pflichten einfordert, fällt schließlich viel stärker ins Gewicht als seine politischen Verdienste. Keira Knightley, mit der Wright schon "Stolz und Vorurteil" gedreht hatte, ist eine sehr moderne Karenina. Sie spielt fast so, als hätte ihre Heldin schon ein Bewusstsein für die „gefährliche Methode“, für die Knightley bei David Cronenberg so virtuos das Studienobjekt abgab. Doch Wright holt aus dieser Figur nicht allzu viel heraus, er macht aus "Anna Karenina" eine Show voller Pracht, die allerdings ironisch wirkt, was der Vorlage dann doch Gewalt antut.

Bert Rebhandl

Dieser Text ist zuerst erschienen im: tip (Berlin)

 


Anna Karenina
Regie: Joe Wright – Drehbuch: Tom Stoppard, Literarische Vorlage: nach dem Roman von Lew Tolstoi – Produzent: Tim Bevan – Kamera: Seamus McGarvey – Architektur: Sarah Greenwood – Kostüm: Jacqueline Durran – Musik: Dario Marianelli – Schnitt: Melanie Oliver – Darsteller: Keira Knightley, Aaron Johnson, Jude Law, Emily Watson, Olivia Williams, Matthew MacFadyen
Kinostart: 06.12.2012 – Verleih: Universal Pictures  
 
 

zur startseite

zum archiv

zu den essays