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Anhedonia – Narzissmus als Narkose

 

 

„Seltsam“, lautet das erste Wort, das in dem Spielfilmdebüt von Patrick Siegfried Zimmer mit dem schönen Titel „Anhedonia“ fällt. Wir erinnern uns: „Anhedonia“ war der Arbeitstitel eines verdeckt autobiografischen Spielfilms von Woody Allen, aus dem dann auf energisches Zuraten des Produzenten „Annie Hall“, „Der Stadtneurotiker“ (fd 20 385), wurde. Anhedonia: die Unfähigkeit, Freude, Lust und Befriedigung zu empfinden.
„Seltsam“ erscheint auch das, was es in „Anhedonia“ zu sehen gibt. Zwei im Stil des Fin de siècle gewandete Brüder, offenbar Kinder sehr reicher Künstler-Aristokraten, suchen die Klinik „Seelenfrieden Island“ des Star-Psychotherapeuten Dr. Immanuel Young auf, um sich einer Lust-Stimuli-Therapie zu unterziehen. Man schreibt das Jahr 2020; der Euro ist als Währung längst abgeschafft.
Franz und Fritz Freudenthal, so die Namen der Jünglinge, sind gegensätzliche Charaktere, die einander Aphorismen um die Ohren hauen. Während Franz sein Ego öffentlich gefüttert sehen will und deshalb hysterisch Titelseiten kauft, ist Fritz komplett in die bunte Medienwelt seines i-Pad abgetaucht. Robert Stadlober und Wieland Schönfelder spielen die Brüder derart aufreizend kapriziös und enervierend, dass man erleichtert aufatmet, als die schrille Theaterfiktion zugunsten von Film-Dreharbeiten aufgehoben wird – und die Schauspieler endlich aus ihren Rollen fallen dürfen und sich vergleichsweise „normal“ verhalten. Und frisch drauflos berlinern!

Es handelt sich also um die Dreharbeiten zu einem „No Budget“-Filmprojekt des berühmten, kultisch verehrten Regisseurs Schorsch Maria Bollerhuber, der vor Jahren überraschend vom Theater zum Film wechselte und zunächst erfolgreich zwei Kassenschlager landete, ehe er für seine „pseudo-avantgardistischen Blindmacher“ von Publikum wie Kritik verhöhnt wurde. Jetzt befindet sich der hedonistische Künstler – fünf Kinder von fünf Frauen auf fünf Kontinenten – in der Krise, was sich auch darin zeigt, dass Bollerhuber seine Darsteller übel beschimpft und sich als eine Mischung aus Kinski, Leander Haußmann und Fassbinder geriert.

Doch damit fällt nicht nur die vierte Wand; „Anhedonia“, der Film im Film, erklärtermaßen eine Studie über menschliche Dummheit, verfügt darüber hinaus auch noch über Traumsequenzen, in denen Franz seine Sätze mit einem handgemachten Echo versieht, plus über eine Art Spielleiter, der in direkter Ansprache wichtige Hintergrundinformationen über Figuren und Handlung vor laufender Kamera vermittelt, die gleichzeitig als Inserts in „Star Wars“-Manier eingeblendet werden.
Doppelt hält besser, zumal, wenn ein Film keinen rechten Plan haben will. Dieser Spielleiter mit seinem ironisch-sprachmächtigen Text wird mit großer Geste, um nicht zu sagen: mit Grandezza von Blixa Bargeld gespielt. Da der Star-Therapeut Dr. Young nur als freundlich-joviale Stimme (gesprochen von „Tocotronic“-Sänger Dirk von Lowtzow) präsent ist, wird das Brüderpaar von dessen Lakai mit tiefer Stimme „betreut“. „Anhedonia“ ist also ein ziemlich überspannter, nur bedingt lustiger, aber phasenweise durchaus unterhaltsamer Spaß über die Freudlosigkeit in der Spaßgesellschaft, dessen Qualität vielleicht gerade darin liegt, dass er gar nicht erst vorgibt, bis in die letzte Konsequenz durchdacht zu sein. Am Ende flüchtet er sich in die Pointe, vielleicht nur deshalb so retrofuturistisch auszusehen, weil es sich um einen Traum von einer trostlosen Zukunft handelte, der zu unserer Gegenwart geworden ist. Was einem zu diesem Zeitpunkt aber längst herzlich egal ist.

Ulrich Kriest

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in: FILMDIENST 7/2016

Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte

 

 

 


Anhedonia – Narzissmus als Narkose
Deutschland 2015 – Produktionsfirma: Interzone Pic./PSZ Pic. – Regie: Patrick Siegfried Zimmer – Produktion: Patrick Siegfried Zimmer, Klaus Maeck, Robert Stadlober – Buch: Patrick Siegfried Zimmer, Sebastian Schultz – Kamera: Marius von Felbert – Musik: Patrick Siegfried Zimmer – Schnitt: Habiba Laout – Darsteller: Robert Stadlober (Franz Fidel Freudenthal), Wieland Schönfelder (Friedrich Balthasar Freudenthal), Blixa Bargeld (Diabolus), Paula Kalenberg (Marie-Estelle Antoinette Chevalier), Matthias Scheuring (Schorsch Maria Bollerhuber), Flo Fernandez (Rüdiger der Cheflakai), Paul Pötsch (David-Alain Bonaparte Forestier) – Start(D): 31.03.2016 – Länge: 79 Minuten – Verleih: Interzone

 

 

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