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Vom Leben und Wirken einer beständigen Anfängerin
Da spielen zwei Füße – offensichtlich Christina Thürmer-Rohrs – auf einer Orgel ein Stück von Johann Sebastian Bach, und dann beginnt die emeritierte Professorin der Technischen Universität Berlin von den bedeutsamen Themen in ihrem Leben zu sprechen, erzählt, führt aus und verknüpft. Da gibt es Archivbilder, wie von der Bologna-Konferenz 1975 an der einstigen Hochschule der Künste Berlin, wo sie als Rednerin auftritt, und auch Impressionen musikalischer Aktivitäten, doch der Fokus der Dokumentation "anfangen" von Gerd Conradt liegt auf den umfangreichen Ausführungen Christina Thürmer-Rohrs über ihre Welt- und Selbstsicht, die auf gleichermaßen schlichte wie ansprechende und inspirierende Art das Porträt einer nicht nur gedanklich umtriebigen, außergewöhnlichen Frau entwickeln.
Ohne Präliminarien ist die Psychologin, Sozialwissenschaftlerin, Musikerin und Frauenforscherin – um nur wenige Aspekte ihres Wirkens zu erwähnen – sogleich inmitten ihrer dichten Gedankenräume, in denen Musik in Theorie und Praxis bereits seit ihrer Kindheit eine tragende, ja rettende Positon innehat. Gesangsunterricht, Chöre, die Rockband „Außerhalb“ sowie gemeinsame Projekte mit der Pianistin Laura Gallati, ihrer Lebensgefährtin, die 2003 in die Gründung des Vereins „Akazie 3“ als Forum für Verbindungen zwischen politischen, philosophischen und musikalischen Fragen mündeten, begleiten das bewegte und bewegende Leben von Christina Thürmer-Rohr. Wer ihren Worten folgt, betritt einen dialogisch dominierten Weg der Integration unterschiedlichster Richtungen innerhalb eines konsequenten Daseins in dem Bemühen, kognitive Erkenntnisse sowie auch deren Veränderungen lebenspraktisch umzusetzen. Diese ebenso energisch wie idealistisch anmutende Haltung spiegelt sich auch in ihrem komplexen Vortrag im Film wider, der mit durchaus kritischer Authentizität stets erneut die persönliche Geschichte mit der historischen verbindet, bis hin zu schmerzlicher Brisanz. Wenn Christina Thürmer-Rohr beispielsweise erzählt, wie sie sich auf Grund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit radikal von ihrem Vater distanziert hat, ungeachtet seiner weiteren Aspekte, kommt diese Kongruenz von Denken und Handeln in ganz besonderem Maße zum Tragen.
Der Berliner Filmschaffende, Autor und Dozent Gerd Conradt ("Über Holger Meins – Ein Versuch, unsere Sicht heute", 1982, "Rettet Berlin!", 2003, "Video Vertov", 2012), ein Pionier der Videokunst, der über Jahrzehnte hinweg immer wieder Projekte über seinen selbst gewählten Lebensraum an der Spree und dessen politische Turbulenzen realisiert hat, lässt die Darstellerin seiner Dokumentation auch ausführlich über die Frauenbewegung der so bezeichneten 68er zu Wort kommen, der sie als viel beachtete Theoretikerin sowie als aktive Protagonistin angehörte. Auch auf diesem Territorium reflektiert Christina Thürmer-Rohr kritisch, streift ihre Positionen zur Mittäterschaft von Frauen vor allem im Nationalsozialismus und beschreibt ihre Verbindung zu den politischen Theorien Hannah Arendts, bis hin zu Betrachtungen über aktuelle cross-kulturelle und Gender-Tendenzen. Freimütig spricht sie auch über ihren 1972 geborenen Sohn Tilman, der in einer Aufzeichnung als kleiner Junge zu sehen ist und dessen Kindheit von den Twists und Turns ihres ungezähmten Lebensstils geprägt war – ihm gefiel es, zitiert die Mutter, die sich selbst als ungefälliges, unbeliebtes und eigensinniges Kind beschreibt, das so allerdings die Unabhängigkeit von externen Zusprüchen erlernt habe.
Am 14. Oktober 2014 wurde "anfangen" im Gunda-Werner-Institut in der Berliner Heinrich-Böll-Stiftung uraufgeführt, wobei Christina Thürmer-Rohr anschließend mit den Professorinnen Sabine Hark und Nivedita Prasad – ihrerseits engagierte Expertinnen für Gender und Cross Culture – in die Diskussion einstieg. Es ist eine markante Qualität von "anfangen", dass dieses persönliche wie professionelle Porträt gedankliche Räume eröffnet, die sich mit der stets aufs Neue schwelend aktuellen Frage beschäftigen, wie sich angesichts von Repressionen und Gewalttätigkeiten in den menschlichen Gesellschaften das eigene (politische) Leben glücklich gestalten lässt. Von einer „Gastfreundschaft im eigenen Kopf“ für andere, auch kräftig divergierende Positionen spricht Christina Thürmer-Rohr hinsichtlich der Herausforderung, die Realität der Verschiedenheit der Menschen zu akzeptieren und diese Haltung auch im Zusammenleben zu aktivieren.
Als permanente Anfängerin, die sich nie irgendwo angesiedelt habe, bezeichnet sich die 1936 im polnischen Choszczno geborene Frauenforscherin, die sich ihr Leben unabhängig von ihrer Herkunftslinie entworfen und entlang der Veränderungen im Denken und Handeln rigoros eingerichtet hat. Bei allen intellektuellen Betrachtungen und Ausführungen ist es zuvorderst die in "anfangen" transportierte, offensichtlich unverwüstliche Neigung Christina Thürmer-Rohrs, Unwissenheit und Zweifel auch ihren eigenen Postionen gegenüber zuzulassen, die ihre Persönlichkeit und ihr Wirken in der Welt auszeichnet. Auf diese Weise gerät der Film auch zu einer kritischen, inspirativen Provokation über die existenzielle Frage nach der Kongruenz von Überzeugungen und deren Äußerungen im eigenen Leben, wobei hier die imaginäre Grenze zwischen Privatem und Professionellem angesichts der Radikalität der Darstellerin wohlweislich destilliert.
Marie Anderson
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Deutschland 2014 – Regie: Gerd Conradt – Drehbuch: Gerd Conradt – Kamera: Ute
Freund – Schnitt: Astrid Vogelpohl – Musik: Laura Gallati, Christina Thürmer-Rohr,
Außerhalb, Johann Sebastian Bach – 47 Minuten – Verleih: Mandala Vision/Gerd
Conradt
Anmerkung: Die Dokumentation "anfangen" ist über den Regisseur Gerd Conradt unter [email protected] erhältlich.
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