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Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht

 

 

 

Von Schabbach aus

Die Kamera schwebt ein. Schwerelos bewegt sie sich durch die Gassen des Dorfes, das einen großen Namen trägt: Schabbach. Das ist der Beginn, am Ende der gleitenden Bewegung wird einer aus der Tür eines Hauses gestoßen, fällt, ein Buch flattert zu Boden: Das ist der Held und auch der Erzähler. Jedenfalls einer, der Buch führt, der nicht nur liest, sondern schreibt und dessen Stimme aus dem Off in geschriebener Sprache reflektiert und berichtet. Der junge Mann trägt ebenfalls einen großen Namen: Jakob Simon. Wir sind also, die Kamera sanft, der junge Mann unsanft, in der Vorgeschichte gelandet: "Heimat", das Prequel. Vollständiger Titel: "Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht".

Edgar Reitz, der fast im Alleingang den Heimat-Begriff rehabilitiert hat, war niemals ein Rechter und wird es nie sein, nur darum konnte seine Neubesetzung des Wortes gelingen. Die Liebe gilt einem Stück Landschaft, das er mit dem Herzen und der Kamera sucht, er verbindet mit seinem Heimat-Begriff keine Ideologie – wenngleich er natürlich Nostalgien unterschiedlicher Art durchaus bedient. Schabbach ist nicht Nossendorf, wohin Hans-Jürgen Syberberg, der Bad Boy des Neuen Deutschen Films, als seiner und der Vorfahren Heimat im Osten zurückgekehrt ist. Er baut am Haus und am Garten, an der Kirche und an den Wegen des Dorfes. Reitz hat dagegen das ganze fiktive Dorf komplett aufbauen lassen, für den Spielfilm belebt und wieder verlassen. Syberberg lebt mit Haut und Haar und bis zum Tod und für Immer im Realen und lädt es mit Sehnsucht und Vergangenheit auf und unterstellt seinem Heimatbegriff auf diese Weise Essenz. Bezeichnenderweise ist das Ganze, wie man es von Syberberg kennt, ästhetisch durchaus avanciert: Website, Webcam, Tagebuch, ein Lebensprojekt, das gar nicht mehr nach einem Werk im emphatischen Sinn strebt.

Wenn dagegen "Die andere Heimat" eines ist, dann justament das: ein Werk der Filmkunst, mit großem W und großem F und großem L wie Landschaftstableau. Nicht zuletzt eben: ein Film. Edgar Reitz war mit seinem "Heimat"-Projekt ja sehr ins Fernsehen geraten. Hat es mit der ersten Serie revolutioniert, hat ihm mit der "Zweiten Heimat" ein Meisterwerk abgetrotzt und versackte mit der beflissenen Historienerzählung "Heimat 3" in den Untiefen seines gegenwärtig ziemlich gottlosen Zustands. Nun aber erweist sich der Mythos des Wortes und seiner Reitzgeschichte als Schibboleth für die Rückkehr auf die große Leinwand. Arte und alle denkbaren Filmfördergremien haben beigetragen, Les films du Losange hat mitproduziert und es ist auf diese Weise eine beträchtliche Summe zusammengekommen, die sich im Leben nicht wieder einspielen lassen wird. Edgar Reitz: ein Oberhausener, der es geschafft hat. Wie schon "Die Zweite Heimat" läuft "Die andere Heimat" nun in Venedig. Das ist schon toll.

Das Jahr ist 1842. Vier Stunden Erzählzeit, die Bilder sind wieder schwarz-weiß, wechseln auch nicht wie früher in die Farbe, es gibt nur an wenigen Stellen edel getönte Intarsien: das frisch aus der Esse geholte Hufeisen leuchtet rot, die Wand in einem der Häuser ist blau, der Schmuckstein in Verläufen von orange zu grau, ein Blumenstrauß, die Kirschen am Baum, auf Digital sagen diese Dinge in Farbe: Hier ist auch im Dorfleben Schönheit. Sonst legen Ausstattung und Bauten viel Wert darauf, dass Kargheit, Armut, harte Arbeit, Hunger und Dreck ist. Es gibt gute Gründe, hier wegzuwollen, auf und davon in die Neue Welt, die hier Brasilien heißt. Das ist nicht die Sehnsucht, von der der Titel spricht, sondern ein Verzweifeln an der Heimat, die ihren Bewohnern ein menschenwürdiges Leben verweigert. Der mit der Sehnsucht ist Jakob Simon (Jan Dieter Schneider, Amateurschauspieler). Ein hochbegabter junger Mann, der in Indianerzungen spricht und sich in Büchern vergräbt, der Film folgt ihm in Bildmontagen in diese Bücher hinein. Ein junger Mann, der nicht tanzt, der sich glücklich-unglücklich in eine Frau aus dem Nachbardorf verliebt, Jettchen (Antonia Bill, Schauspielschülerin an der der Ernst Busch-Schauspielschule), beim Dorffest, das ein Höhepunkt des ganzen Films ist, kommt es zu Verwicklungen aus dem Trivialroman, aber das macht nichts. Weil Vormärz ist, muss auch ein Stück Politik mit hinein, das den Film im Grunde nicht weiter interessiert. Anders als zuletzt "Heimat 3", den Reitz mit Thomas Brussig schrieb, ist das Drehbuch, das Reitz mit dem Schriftsteller Gert Heidenreich verfasst hat, aber keineswegs mit Historienstücken und Bedeutung und Plotelementen überladen. "Die andere Heimat" atmet, anders als die lungenkranke Mutter (Marita Breuer, "Heimat"), sehr ruhig und nimmt sich die Zeit, die er braucht. Was er eigentlich will, ist nicht Historienerzählung, sondern eben die Filmkunst, und darin, dass ihm gelingt, was er will, muss er scheitern.

Es findet sich ganz vorne im Pressematerial ein "Statement" von Edgar Reitz. Sein Argument hat zwei Teile. Im ersten dankt er dem Fortschritt, der uns aus dem "bitterarmen Deutschland" von damals zu "Freiheit und Lebensfreude" geführt hat. Im zweiten kehrt er diese Figur um: "Wir konnten ‘von Schabbach aus’ einen fremden Blick auf unsere Gegenwart werfen und waren erschrocken, wie apokalyptisch uns diese im Konsumtaumel rotierende und in Egozentrik und maßlosen Ansprüchen zersplitterte Gesellschaft erscheint." Und weil das so ist, fällt auf die mühsam wiederaufgebaute mühselige Vergangenheit doch ein verklärender Blick. Nicht auf der Ebene des Inhalts. Da wird kaum eine der Widrigkeiten verschwiegen, wenngleich das ins tägliche Elend hineingesetzte Indianersprachen- und Sehnsuchtsgenie Jakob Simon Produkt reinen Wunschdenkens ist. Aber das ist legitim, gegen Träume von einem anderen und besseren Leben, das aus dem eigenen falschen befreit, ist wenig zu sagen.

Die Probleme liegen an anderer Stelle, das wichtigste ist der Kameramann Gernot Roll. Er ist Jahrgang 1939, hat sein Kamerahandwerk noch bei der DEFA gelernt (was man bis heute sieht), verließ 1960 die DDR und ist ein wirklicher Kameravirtuose. Mit Edgar Reitz hat er 1977 schon "Die Stunde Null" gedreht, einen Historienfilm der vom Kriegsende erzählt, dann die klassische "Heimat" sowie fünf Episoden der "Zweiten Heimat". Er hat immer schon eine Tendenz ins kunstgewerblich Preziöse, dazu, alles Statische durch Kamerabewegungen scheinhaft zu dramatisieren: Innenräume und Landschaften, Dorf, Himmel und Erde. In Heinrich Breloers "Buddenbrooks" war das oft geradezu lächerlich. In "Die andere Heimat" ist es nur schade. Denn nicht alles, was sich großem Kunstwillen verdankt, ist ein erhebender Anblick. Oft kippt es in eine Art akademischer Malerei, an der alles stimmt, nur dass sie auf sehr gekonnte Weise ein bisschen tot ist. Es kommt – und kam schon in "Heimat 3" – erschwerend hinzu, dass der Komponist Michael Riessler an den schwelgerischen Neutöner Nikos Mamangakis nicht heranreicht. So sitzt man nicht ohne Bewundern vor dem großen Gemälde – und bleibt doch ungerührt. Es gibt viele Gründe, den Hut zu ziehen vor Edgar Reitz, der in einem doch anrührenden Epilog selbst den Hut zieht vor Werner Herzog, der als Alexander von Humboldt einer Kutsche entsteigt. Viel lieber aber wäre ich von Herzen begeistert gewesen. Das schöne Geld, die schönen Bilder: Respekt, und darum leise Enttäuschung.

Ekkehard Knörer

 

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in: cargo

Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte

 


Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht

Deutschland 2013 – 220 Minuten – Start(D): 03.10.2013 – FSK: ab 6 Jahre – Regie: Edgar Reitz – Drehbuch: Gert Heidenreich, Edgar Reitz – Produktion: Christian Reitz – Kamera: Gernot Roll – Schnitt: Uwe Klimmeck – Musik: Michael Riessler – Darsteller: Werner Herzog, Marita Breuer, Jan Dieter Schneider, Antonia Bill, Maximilian Scheidt

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