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Am Sonntag bist du tot
Bärig, aber sensibel
Einen Sturm im katholischen Wasserglas entfacht John Michael McDonaghs "Calvary".
In seinem neuen Film, "Calvary", veranstaltet Regisseur
und Drehbuchautor John Michael McDonagh existenzielles Händeringen rund
um einen zerknautschten Priester (Brendan Gleeson) und dessen exzentrische Gemeinde.
Ort der Handlung ist ein Dorf an der irischen Küste, nah bei Gott (das
Licht, das Meer) und gleichzeitig sehr weit von ihm entfernt: Zu Father James’
Herde zählen ein Kannibale, ein depressiver Finanzspekulant, ein zynischer
Arzt ("the atheistic [sic!] doctor is a clichéd part to play"),
ein sterbender great american novelist, eine unglücklich-promiske Hausfrau und ihr gewalttätiger
Gatte, der Dorfmetzger. Und Fiona, James’ Tochter aus einem früheren Leben,
die sich aus London (vermutlich noch weiter weg vom Herrn) ins irische Halbidyll
flüchtet. Die Bandagen, die Fiona um beide Handgelenke trägt, sind
ihrem Vater (und später der Dorfgemeinde) zunächst Anlass zum Scherzen
und rühren erst dann – oder nur so, im Medium des sprachlich elaborierten
witticism – an seinem Mitgefühl.
"How was that for a third act revelation?" fragt Father James seine
Tochter auf der Felsenküste, nach einem bedeutsamen Gespräch über
Vergeben, Versöhnen und Vergessen. Selbstreflexiv gewitzt, oft bis zur
Schmerzgrenze des allzu Ausgeklügelten, ist der Tonfall des gesamten Films.
So dunkel können die angetippten und aufgerollten Problemlagen gar nicht
sein, dass McDonagh nicht doch ein guter Spruch dazu einfiele, um ihn einer
seiner Figuren relativ unverbindlich in den Mund zu legen. Das hat eine gewisse
Stringenz: Auch die katholische Kirche verbreitet ihre Lehren in Sprüchen,
Anekdoten und Aphorismen. Die Dorfbewohner mögen sich über den Priester
lustig machen (seinem Hund die Kehle aufschneiden und seine Kirche in Brand
setzen). Gegen die fundamentale Prägung, die der Katholizismus noch ihrem
Unglauben, ihren Existenzkrisen und ihrer betrunkenen Sprücheklopferei
verleiht, hilft alle antiklerikale Aggression nichts. In diesem double bind
steckt auch der Unbekannte, der in der ersten Szene des Films, in Father James’
Beichtstuhl, von seiner Misshandlung durch einen katholischen Priester erzählt,
in grafischen Details. Der Pater – aufrichtig, ernst und direkt, wie wir es
als seine Art kennenlernen werden – erwidert, dass er keine Antwort weiß.
Die sucht der Unbekannte auch gar nicht. Stattdessen teilt er Father James zum
Abschied mit, dass er ihn am kommenden Sonntag am Strand erwarten werde, um
ihn, den guten Priester für den schlechten, umzubringen.
Wie die Erschaffung der Welt erstreckt sich "Calvary" über
eine ganze Woche, bis zur schicksalhaften Begegnung in der Brandung. Father
James ist das Lamm, dass für die Sünden dieser Welt hingegeben werden
soll. Davor durchläuft er, denn McDonagh meint es ernst mit den Bibelparaphrasen,
seinen eigenen Passionsweg. "Calvary" entwickelt seine Themen reiterativ
eher als linear, eben als Stationendrama auf dem Weg zur finalen Kreuzigung.
Unterwegs sollen wir uns fragen, welches der beschädigten Schäfchen
als Mörder infrage kommt. Eventuell zielt McDonagh sogar auf so etwas wie
Suspense. An mir jedenfalls hat keine Spannung verfangen, auch weil ich mich
(irrtümlich) in Sicherheit wog, den Inhaber der Stimme aus dem Beichtstuhl
sofort erkannt zu haben. Am metaphorischen Gipfel des Kalvarienbergs angekommen,
ist klar, dass es eigentlich egal ist, wer den Finger am Abzug hat. Alle sind
schuldig. Allen wird, wenn die Helikopterkamera am erhabenen Tafelberg im Dorfhintergrund
vorbei und über den umliegenden, grün-in-grünen Landstrich hinweg
zieht, Vergebung zuteil.
Das ausnehmend skurrile, dorfgemeinschaftlich organisierte Personal des Films,
zusammen mit dem pittoresk-irischen Küstensetting, lässt immer wieder
an Bill Forsyths "Local Hero" denken (auch eine schöne Meeresbiologin
kommt in beiden Filmen vor). Weniger als direktes Vorbild denn als verpasste,
verfehlte Möglichkeit: Nirgends reicht "Calvary" an die subtilen
tonalen Verschiebungen heran, die Forsyth in seinem zugleich kleinen wie epochalen
Film von 1983 gelangen. Die Klischees, die Forsyth noch zum Tanzen brachte,
bleiben hier überall mit sich selbst identisch. Das schlimmste von ihnen,
auch weil ihm die meiste Leinwandzeit gehört, ist Father James selbst:
Bärig, aber sensibel, schroff und unwirsch, aber gutmütig, darf Brendan
Gleeson in der Hauptrolle des Opfers nie vom Script abweichen. Gegen Ende, wenn
die kalte Logik des Rituals sich für einen Moment gegen das nervig menschelnde
Substratum des Films durchsetzt, läuft "Calvary" dann doch noch
kurz zur Hochform auf. Insgesamt aber: ein Sturm im Wasserglas.
Nikolaus Perneczky
Dieser Text ist zuerst erschienen in: www.perlentaucher.de
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Am Sonntag bist du tot
OT: Calvary
Irland / Großbritannien 2014 – 100 min. – Regie: John Michael McDonagh
– Drehbuch: John Michael McDonagh – Produktion: Chris Clark, Elizabeth Eves,
Aaron Farrell, Flora Fernandez-Marengo, James Flynn, Norman Merry, Patrick O’Donoghue
– Kamera: Larry Smith – Schnitt: Chris Gill – Musik: Patrick Cassidy – Verleih:
Ascot Elite – Besetzung: Brendan Gleeson, Chris O’Dowd, Kelly Reilly, Aidan
Gillen, Dylan Moran, Isaach De Bankolé, M. Emmet Walsh, Marie-Josée
Croze, Doug Matthews, Domhnall Gleeson, David Wilmot, Gary Lydon, Killian Scott,
Orla O’Rourke, Owen Sharpe – Kinostart (D): 23.10.2014
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