zur startseite

zum archiv

zu den essays

Amour Fou


Die österreichische Regisseurin Jessica Hausner ("Lovely Rita", "Lourdes") interpretiert die Vorgeschichte des Doppelselbstmords von Heinrich von Kleist und Henriette Vogel neu und seziert dabei auch den Mythos der »verrückten Liebe«

Das Liebesmodell der Amour fou ist ein unsterbliches Motiv des Kinos. Absolute Leidenschaft, unbedingte Gefühle, berauschende Intimität verschmelzen in opernhaft-üppiger Überhöhung. Raffinierte Licht- und Schatteneffekte, anschwellende Musik, Filmküsse, Beischlafinszenierungen und das große Drama der Unlebbarkeit des radikalen Überschwangs gehören zum mythischen Repertoire der grenzüberschreitenden Liebe im Film.

"Amour Fou", Jessica Hausners Rekonstruktion des Selbstmords von Heinrich von Kleist und Henriette Vogel im November 1811, verschiebt die Akzente. Ihr Modell »verrückter Liebe« erzählt den historischen Fall als theaterähnliche Inszenierung zweier prinzipiell unterschiedlicher Antriebe. "Amour Fou" betont den unsentimentalen Diskurs, eine gemessen literarische, unverhofft modern wirkende Verhandlung über das Rätsel Todessehnsucht, das die beiden zusammenführt.

Heinrich von Kleist (Christian Friedel), der gescheiterte Dichter und Soldatensohn, hat den eigenen sozialen Tod im preußischen Ständestaat vor Augen und wirbt – enttäuscht über das Beharren der oberen Klassen auf Distanz zu den Gleichheitsgrundsätzen der von Napoleon importierten neuen Staatsidee – bei der sanften Henriette (Birte Schnöink) um die Mittäterschaft eines gemeinsamen Selbstmords. Kleist will sein existentielles Desaster (»Mir ist im Leben nicht zu helfen«) mit einer überspannten Geste freundschaftlicher Vertrautheit beenden. Auf Henriette kommt er, nachdem seine große Liebe Marie von Kleist (Sandra Hüller) sein Angebot, gemeinsam zu sterben, nonchalant abgewiesen hat. Henriette, die musisch interessierte Gattin eines Steuerbeamten, schließt sich Kleist erst nach langem Zögern an, als die Ärzte ihre Krämpfe und Ohnmachtsanfälle als tödliche Krebserkrankung diagnostizieren. In ihrem innigen Abschiedsbrief an ihren Mann und die kleine Tochter beschwört sie, dass sie ohne Schuldgefühle ins Jenseits vorangehe und hoffe, dort ihre Lieben wiederzusehen.

Vielleicht war die historische Henriette Vogel das Opfer einer Fehldiagnose, vielleicht rechtfertigte die junge Frau ihre Kurzschlusshandlung durch die Behauptung einer »geistigen Liebe« zu dem 34-jährigen Literaten. Jessica Hausner gibt den wohlgesetzten überlieferten Worten und deren Annäherung an die inneren Tumulte der Protagonisten viel Raum. Das handwerklich ausgezeichnete Schauspielensemble entfaltet darüber hinaus in vielen stummen Passagen die mysteriöse Oberflächenqualität historischer Porträts. Die minimalistische, fast statuarische Ruhe ihrer visuellen Erzählformen unterstreicht den Parabelcharakter ihres Films. Die Kamera (Martin Gschlacht) betont den unüberwindlichen Abstand zwischen ihren Protagonisten in Tableaus und festen Einstellungen. Rot drapierte Innenräume markieren die Welt der vitalen Marie, während die bürgerliche Wohnung der Familie Vogel wie ein Gefängnis aus geometrischen Tapeten- und Bodenmustern wirkt. Worte ersetzen typisch sentimentale Filmmusiken. Henriette Vogel singt romantisches Liedgut mit hilflos kleiner Stimme.

Das Parlando lädt zum Vergleich mit unseren aktuellen Debatten um die Volkskrankheit Depression ein. So vermutet der Hausarzt hinter Henriettes Krampfzuständen (deren banale Abbilder der Film verweigert) damals unentdeckte Zusammenhänge zwischen seelischen und körperlichen Leiden. Auch die These, der Tod dreier Kinder sei für Henriettes Schwermut verantwortlich gewesen, bleibt in Jessica Hausners Film unerwähnt. Er deutet auch Kleists Versuche im Herbst 1811, Zuwendungen vom preußischen Staat zu erhalten, nur beiläufig an. Ihr Film kontrastiert das Leiden an der Welt mit dem ungerührten Geschwätz der guten Gesellschaft, die über Hardenbergs Reformen lamentieren, insbesondere über die Zumutung, Steuern zahlen zu müssen. Stagnation ist tödlich, vielleicht lässt sich "Amour Fou" so deuten.

Claudia Lenssen

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in: epd film

 

 

  

Amour Fou
Österreich 2014 – 96 min. Regie: Jessica Hausner – Drehbuch: Jessica Hausner – Produktion: André Fetzer, Ole Nicolaisen – Kamera: Martin Gschlacht – Schnitt: Karina Ressler – Verleih: Neue Visionen – Besetzung: Christian Friedel, Birte Schnoeink, Stephan Grossmann, Katharina Schüttler, Sebastian Hülk, Sandra Hüller, Alissa Wilms, Holger Handtke, Hana Sofia Lopes, Peter Jordan, Eva-Maria Kurz, Barbara Schnitzler, Gustav-Peter Wöhler, Paraschiva Dragus, Marc Bischoff – Kinostart (D): 15.01.2015

 

zur startseite

zum archiv

zu den essays