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Äpfel und Birnen

Auf einer abstrakten Ebene folgen die höchst kontrovers diskutierten dokumentarischen Essays Erwin Wagenhofers durchaus einer Logik. Nachdem er uns mit „We feed the world“ (2005) den globalen Lebensmittel-Irrsinn anschaulich machte, folgte 2008 mit „Let’s make money“ der Blick auf den dahinter stehenden Motor aus dem Ruder gelaufener kapitalistischer Profitinteressen. Wiederum sehr prägnant gestaltet und zudem auch noch pünktlich zur Bankenkrise in den Kinos. Wer mit Kritik eine mögliche Veränderung zum Positiven verbindet, landet früher oder später bei der Frage der Bildung, die schließlich – allgemein formuliert – kreativ zu Lösungen erkannter Probleme befähigen sollte.

Wer nun aus irgendwelchen familiären oder beruflichen Gründen Zugang zur Bildungssphäre hat, wird von Krise nicht mehr sprechen wollen, wo „Katastrophe“ angebracht ist: PISA-Studie, G8, Bachelor-Studiengänge und Exzellenz-Cluster mögen als Stichworte einer strategischen Verkümmerung von Bildung im Zeichen der marktkonformen Zurichtung des Individuums dienen. Bildung ist zum Geschäft geworden. Folgt man Wagenhofer, dann ist der Befund noch erschütternder, denn die aktuell krisenhaften Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft treffen in den Führungsetagen nicht nur auf ein im Sinne des Systems ausgebildetes und also hilfloses Personal, sondern eben diese Technokraten-Kaste sorgt qua globaler Bildungspolitik für systemaffirmative Lernziele und nicht-ganzheitliche Reproduktion von normiertem Wissen. Ein Teufelskreis, der das Kreative, das Musische, das Neugierige, die Imagination und das Kindliche längst nicht mehr delegitimiert, sondern tendenziell bereits eliminiert hat.

Wäre da nicht Erwin Wagenhofer, der rund um den Globus reiste, zur Bestandsaufnahme und der möglichen Suche nach alternativen Impulsen. Eine zugespitzte These findet sich bereits auf dem Filmplakat: „98% aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt. Nach der Schule sind es nur noch 2%.“ Doch was heißt hier „hochbegabt“? Und wer hat wann was gemessen? Wagenhofer hat rund um die Welt Stimmen gesammelt, die er kommentarlos so montiert hat, dass sich ein ärgerlich schlüssiges Bild ergibt. China ist ein PISA-Musterland, wie ein deutscher PISA-Wissenschaftler bewundernd bestätigt. Der Film erzählt lieber von Leistungsdruck, ehrgeizigen Eltern und von der Selbstmordrate unter chinesischen Schülern. Der Hirnforscher und Bildungskritiker Dr. Gerhard Hüther bestätigt dies, weiß von einer regelrechten Nachhilfeindustrie und einem „transgenerationellem Angstsyndrom“, das Kreativität massiv verhindert. Und dann ist da noch der Kunstpädagoge Arno Stern, der an seinem Mal-Ort in der Nähe von Paris unterschiedliche Menschen ohne Anspruch und Druck »einfach« malen lässt. Einst hätten die Kinder noch Blumen und Wiesen gemalt, heutzutage malten sie abstrakt. Ein böses Zeichen!

Sterns Sohn André, ganz ohne Schule aufgewachsen, erzählt von einer Art pädagogischem Instinkt, der es erlaube, größte Mengen an Informationen binnen kürzester Zeit zu verarbeiten, wenn die Zeit reif dafür sei. Er hat es zum Komponisten und Instrumentenbauer gebracht. Wer weiß, was aus André geworden wäre, hätte er eine Schule besucht? Ein geschniegelter McKinsey-Berater? Kurz darauf ist man bei Rousseau und Benjamin Franklin gelandet. Hier wird nicht nur polemisiert, sondern hier wird der Zuschauer mit einer simplifizierenden Auswahl plakativer Halbwahrheiten manipuliert. Was ausgerechnet beim gewählten Thema das Problem eher verschärft, sollte es doch um Souveränität, Eigensinn und Autonomie gehen. Und nicht um Bauernfängerei im Kinosaal!

Ulrich Kriest

Dieser Text ist zuerst erschienen in der: Stuttgarter Zeitung

Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte

 

 

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Österreich / Deutschland 2013 – 90 min.
Regie: Erwin Wagenhofer – Drehbuch: Erwin Wagenhofer – Produktion: Viktoria Salcher, Mathias Forberg – Kamera: Erwin Wagenhofer – Schnitt: Michael Hudecek – Verleih: Pandora – Kinostart (D): 31.10.2013

 

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