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Alphabet
Wir Tiefbegabten
Wer sich die Schule ansieht, sieht sich auch die Gesellschaft an, und wer die
Schule kritisiert, kritisiert gleich die Gesellschaft mit. In Erwin Wagenhofers
("We
Feed the World", "Let’s make Money")
neuem Dokumentarfilm "Alphabet" aber wird nicht nur kritisiert, wie
den Menschen eine auf Konkurrenz und Leistung hin getrimmte Pädagogik krank
und unglücklich machen kann, es wird auch ein pädagogisches Gegenmodell
entworfen, welches A.S. Neill, der Begründer der Summerhill-Schule und
der "Antiautoritären Erziehung", sicherlich gerne mitunterschrieben
hätte. Das Interessante dabei: manche der Befürworter einer neuen
und freien, nennen wir sie: "Nicht-Schule", die in diesem Film zu
Wort kommen, stammen aus eher pädagogikfernen Bereichen, wie z.B. der Top-Manager
Thomas Sattelberger, welcher nach einer erfolgreichen Karriere bei Lufthansa
oder Telekom sich gegen eine systematische pädagogische "Verklonung"
des Menschen ausspricht.
Besonders signifikant für diese hier kritisierten "Zurichtungen" sind Entwicklungen ausgerechnet in der Volksrepublik China, in der sich das Bildungssystem nach der Zuwendung zur Marktwirtschaft wohl radikaler in ein Leistungs- und Konkurrenzprinzip gewandelt hat als irgendwo sonst in der Welt. Bei den weltweiten PISA-Studien rangieren die Bildungsstandards der Kinder von China ganz oben, was de facto bedeutet, dass chinesische Kinder von klein auf mit Wissen vollgestopft werden, dass Prüfungen zum Kinderalltag gehören, dass Kinder sich nicht mehr ausruhen dürfen, dass Kinder auf ihre Eltern neidisch sind, weil die wenigstens noch ein Wochenende haben.
Seit Jahren ist Suizid die häufigste Todesursache bei Chinas Jugendlichen, merkt Professor Yang Dongping besorgt an, Leiter der staatlichen Organisation "Bildung des 21. Jahrhunderts", und er beschreibt eine radikale Veränderung von einer Schule, in der das gemeinsame Lernen im Mittelpunkt stand, hin zu einer Schule, in der es nur noch darum geht, besser als die anderen zu sein und schneller vorgefertigte Inhalte unhinterfragt zu übernehmen, um schnell Karriere machen zu können.
Man muss bereit sein, Freizeit, Familie, Privatleben für den Beruf, die Karriere, sprich: den Markt, zu opfern. Diese Terminologie von Managerschulen, so Wagenhofer, erinnert nicht zufällig an frühindustrielle bzw. preußisch militaristische Zeiten, wenn propagiert (und praktiziert) wird, dass "für den Unternehmenserfolg alle Mittel erlaubt" sind und von "Angriff und feindlichen Übernahmen" gesprochen und gedacht wird. Es geht um Angsteinflößung zum Zweck der Anpassung.
Wenn man dem Film "Alphabet" Glauben schenken mag, dann steht der Welt ein Paradigmenwechsel bevor. "Angst", darin sind sich die Befürworter der hier propagierten alternativen Pädagogik einig, ist ein schlechter Pädagoge, und statt Angst müsse "Liebe" die Basis des Lernens bilden. Liebe und Vertrauen in das Kind, das ja von Natur aus neugierig sei, das alles lernen könne, wenn es nur von sich aus wolle. Einen Menschen zu "bilden" sei unmöglich, und schon das "Alphabet"-Filmplakat, das (ein Baby unter Wasser greift nach der Weltkugel) offenbar vom Nirvana-"Nevermind"-Cover inspiriert ist, verkündet: "98 % aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt, nach der Schule sind es nur noch 2 %." (Dasselbe höre ich ständig von meiner Yoga-Therapeutin über mich). Tanzen, Musizieren und Malen, darin scheinen sich alle das Worthabenden einig zu sein, ist das Essentielle, was zu praktizieren sei, der Rest käme von selbst (auch hierin stimmen alle meine versammelten Therapeutinnen überein).
Aber, so ließe sich ein Einwand formulieren, was wäre, wenn alle nur das tun würden, was sie glücklich macht? Dann wäre doch kein Mensch mehr form-oder manipulierbar? Wie stellen sich Filmemacher Wagenhofer und seine Gesinnungsgenossen Gerald Hüther, Thomas Sattelberger, Sir Ken Robinson, Yang Dongping oder Arno Stern denn dann die Zukunft des Kapitalismus vor? Gar nicht? Aber wäre das nicht traurig: eine Welt ganz ohne Angst und Armut und Unterdrückung und Ausbeutung? Ich meine, ein bisschen Thrill muss doch schon bleiben?
Sicherlich merkt der Leser, dass hier Humor obwaltet, aber mal im Ernst, welches Wolkenkuckucksheim schwebt euch eigentlich vor? Man kann ja schon froh sein, wenn irgendwann nach der Bundestagswahl ein Mindestlohn von 10 Euro durchgesetzt würde. – Nichtsdestotrotz, Genossen und Andersdenkende, spricht "Alphabet" die Wahrheit und er verdient das Angesehenwerden, ebenso wie die Schule und die Gesellschaft, und wie die dann wiederum Kritik verdienen! Aber volle Ölle. Danke für Aufmerksamkeit.
Benotung des Films:: (8/10)
Andreas Thomas
Dieser Text ist zuerst erschienen in der: www.filmgazette.de
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Alphabet
Österreich / Deutschland 2013 – 90 min.
Regie: Erwin Wagenhofer – Drehbuch: Erwin Wagenhofer – Produktion: Viktoria
Salcher, Mathias Forberg – Kamera: Erwin Wagenhofer – Schnitt: Michael Hudecek
– Verleih: Pandora – Kinostart (D): 31.10.2013
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