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Alice
im Wunderland (2010)
Alice
im Burtonland
Tim
Burton gibt seit etwa 20 Jahren den Hollywood-”Märchenonkel”, der immer
wieder dasselbe Märchen erzählt – könnte man etwas böswillig
formulieren. Doch was er seit seinem ersten Spielfilm “Pee-Wee’s
Big Adventure”
leistet, ist weit mehr als nur Kindheits- bzw. Kinder-Fantasien in Bilder umzusetzen.
Seine Filme übergreifen literaturhistorische Traditionen ebenso sehr wie
sie national-kulturelle Grenzen überschreiten. Das ihnen dies gelingt,
liegt vor allem daran, dass sich Burton bei seinen Plots eigentlich stets monomythischer
Erzählmuster bedient oder selbst welche konstruiert, woraus die Selbstähnlichkeit
seiner Stoffe resultiert. Mit “Alice im Wunderland” adaptiert er nun ein weltberühmtes
Märchen in seine Erzählwelt und hat dabei gleich mehrere Probleme
zu lösen: Wie entzieht er die Story der ihr seit 60 Jahren anhaftenden
Disney-Verkitschung, wird gleichzeitig der Vorlage Lewis Carrolls gerecht und
macht einen typischen Burton-Stoff daraus?
Es
ist gleich in mehrfacher Hinsicht kein leichtes Erbe, das Burton mit “Alice
im Wunderland” antritt. Gerade aufgrund der disneyschen Adaption von 1951 hält
sich hartnäckig das Vorurteil, es handele sich bei dem Stoff um ein Märchen
für Kinder – zusätzlich dadurch genährt, dass die Protagonistin
eine jener carrollschen Mädchen-Figuren zwischen Kind- und Erwachsenen-Dasein
ist, sich also “märchenhaft entwickelt”. Das Nymphenhafte der Figur (von
dem man annehmen darf, dass es Carroll mehr interessiert haben dürfte,
als es gut war) ist es allerdings erst, dass diese Fantasie-Welt im Erdloch
bzw. hinter den Spiegeln konstruiert und mit zahlreichen komplexen Symbolen
auflädt. Diese Symbole – anders als Disney – nicht in die Eindeutigkeit
zu verklären, sondern in ihrer Ambiguität zu adaptieren, gelingt Burton
auf wunderbare Weise und verhilft seinem Film schließlich zu seinem “erwachsenen”
Image.
Auch,
dass er für die Alice-Figur die aufstrebende australische Jung-Schauspielerin
Mia Wasikowska ausgesucht hat, nähert seinen Film Carroll an und entfernt
ihn von Disney. Zwar wird schon im Prolog betont, dass Alice eine junge Frau
von etwa 20 Jahren ist (wie die Schauspielerin selbst auch), doch gelingt es
der Ausstattung, die ohnehin kindlichen Züge der jungen Frau stets im Vordergrund
zu halten. Alice wirkt im Film wie eine 13- oder 14-Jährige, und der Umstand,
dass sie eigentlich mit dem langweiligen Aristokratensprössling verlobt
werden soll, bevor sie ins Märchen-Loch fällt, verleiht der Geschichte
schon dadurch eine gewisse leicht perverse Sexualisierung, die Burton im weiteren
Verlauf immer weiter auszunutzen lernt, indem er die Figur mehr und mehr fetischisiert.
Auch das dürfte eher im Geiste Carrolls als Disneys gewesen sein.
Entscheidend
für einen Burton-Film war jedoch neben der monomytischen Entwicklungsgeschichte
immer schon auch ein bestimmter Appeal, den er auch jetzt wieder spielerisch
erreicht und der seinen Film unverkennbar macht: Da ist einerseits die Buntheit
der Bilder, die sich mit dem (typischen) Danny-Elfman-Soundtrack zu einer Synästhesie
vereint, die in ihrer Rauschhaftigkeit durch das 3D-Verfahren grandios unterstrichen
wird. Daneben zeigt sich jene Liebe zum Detail, zum Hintergrund und zum Nebenbei,
die Burtons Handschrift seit seinen frühen Kurzfilmen unverkennbar macht,
auch in “Alice im Wunderland” wieder: etwa die Randfiguren, wie das Bruderpaar
Twiddledee und Twiddledum (in dieser seltsamen Mischung aus Tollpatschigkeit
und Aggression perfekt gespielt von “Little-Britain”-Coautor und -Star Matt
Lucas), der irre Humor der Tea-Party mit dem Märzhasen, der Maus und dem
Hutmacher (gespielt von Johnny Depp – der heimlichen Hauptfigur des Films) und
die stetige Ambivalenz aller Figuren.
Hier
besticht nicht nur die Ausgestaltung der mysteriösen Cheshire Cat und das
manische Auftreten des verrückten Hutmachers, sondern besonders auch die
verfeindeten Königinnen-Schwestern, von denen Helena Bonham Carter, die
die Red Queen spielt, sogar noch hinter der Leistung ihrer weit seltener im
Film zu sehenden Kollegin Anne Hathaway, der White Queen, steht: In Hathaways
Figur sublimieren sich all die weltfeindlichen, latent aggressiven und bezaubernden
Frauenfiguren Burtons von Winona Ryder (aus “Beetlejuice” und “Edward
Scissorhands”)
über Natalie Portman (die Präsidententochter aus “Mars
Attacks!”)
bis Christina Ricci (in “Sleepy Hollow”).
Mit
“Alice im Wunderland” wiederholt Burton also zwar vieles schon Dagewesene aus
seinem vorherigen Werk; der Film ist aber auch genau deshalb ein “echter Burton”,
weil er das fantastische Universum um einen Aspekt erweitert. Dass er dabei
trotz immer größerer Budgets und Staraufgebots seiner Handschrift
stets (sieht man einmal von “Planet
of the Apes”
ab) treu geblieben ist, könnte man ebenfalls schon als eine beachtenswerte
Leistung sehen. Wie um dies zu bestätigen, steht von Tim Burton demnächst
ein Remake eines seiner ersten Kurzfilme (“Frankenweenie”) auf dem Programm.
Stefan
Höltgen
Dieser Text ist zuerst erschienen in: f.lm
Alice
im Wunderland
(Alice
in Wonderland, USA 2010)
Regie:
Tim Burton; Buch: Linda Wooverton; Romanvorlage: Lewis Carroll; Musik: Danny
Elfman; Kamera: Dariusz Wolski; Schnitt: Chris Lebenzon; Casting: Susie Figgis;
Ausstattung: Robert Stromberg
Darsteller:
Johnny Depp, Mia Wasikowska, Helena Bonham Carter, Anne Hathaway, Crispin Glover,
Matt Lucas, Stephen Fry u. a.
Länge:
108 Minuten
Verleih:
Buena Vista
Dt.
Start: 4.3.2010
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