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Alarm am Hauptbahnhof
 


Zu Beginn dieser Dokumentation sieht man Bundeskanzlerin Angela Merkel, wie sie im Bundestag erklärt, dass die kommende Landtagswahl in Baden-Württemberg zugleich ein Plebiszit in Sachen „Stuttgart 21“ sein werde. Mittlerweile hat sich der damalige Ministerpräsident des Landes, Stefan Mappus, aus der Politik in die Freie Wirtschaft zurückgezogen, andere Mitglieder der damaligen Landesregierung sind aus der Öffentlichkeit vorläufig abgetaucht. In Baden-Württemberg regiert nun eine Koalition aus Grünen und SPD, was den Protest gegen Stuttgart 21 nicht gerade beflügelt, da die SPD dem Projekt in alter Liebe treu verbunden ist. Die nächste Station der scheinbar unendlichen Geschichte ist eine anstehende Volksbefragung, deren Konsequenzen nicht abzusehen sind: Tief gespalten scheint die Bevölkerung nicht nur der Stadt Stuttgart über den Fortgang des Großprojekts.

Im Vergleich zum Bewegungsfilm „Stuttgart 21 – Denk mal“ (fd 40 348) gehen die „Böller & Brot“-Dokumentaristinnen Wiltraud Baier und Sigrun Köhler zu den Ereignissen auf ironische Distanz, sind zwar parteilich, beweisen aber doch ein Sensorium für das Geschehen am Rande des Spektakulären. Hier waltet ein Sinn für Nuancen, für Temperamente und Haltungen, die sich auch via Sprache und Idiom artikulieren. Hier der schwäbelnde Protest, dort Politiker mit ihrer nur vorgeblichen Volksnähe. Dazwischen die alerten Manager der Bahn und der sich kauzig gebende Schlichter Heiner Geißler, der seinen Job erledigt. Unvermeidlich ergeben sich Überschneidungen zu „Stuttgart 21 – Denk mal“, aber hier zeigt sich bereits die zeitliche Distanz zwischen beiden Filmproduktionen: Im älteren Film hatte eine gewisse Resignation Einzug gehalten, weil die undurchsichtige Tätigkeit des Schlichters Geißler der Protestbewegung erheblich Energie entzogen hatte; „Alarm am Hauptbahnhof“ ist zwei Schritte weiter und auch genauer im Hinschauen: Die verschmitzte Selbstgefälligkeit und der sich naiv gebende Unernst im Auftreten Geißlers wird prägnant eingefangen. Die so genannte Schlichtung war ein Zeit raubendes, äußerst zähes Ablenkungsmanöver, dessen Erfolg sich erst mittelfristig zeigen wird.

In einer weiteren sehr schönen Szene sieht man das Public Viewing auf dem Stuttgarter Schlossplatz am Abend der Landtagswahl, als die Grünen erdrutschartige Stimmengewinne einfahren und die „Stuttgart 21“-Gegner ihrem vermeintlichen Sieg fassungslos gegenüberstehen. Zuvor bereits war eine längere Sequenz aus dem Untersuchungsausschuss zur Polizei-Gewalt gegen Demonstranten am 30.9.2010 zu sehen, die allein dadurch besticht, den Verantwortlichen der Landesregierung und den CDU-Mitgliedern des Untersuchungsausschusses bei ihren Antworten und Fragen ins Gesicht zu schauen. Die Arroganz der Macht ist hier mit einer Pointiertheit dokumentiert, die an George Grosz erinnert.

Dabei ist „Alarm am Hauptbahnhof“ keineswegs verbiestert: Immer wieder gibt es kurze Szenen, die humorvoll die in Stuttgart herrschende Verbitterung über den Konflikt relativieren. Überall in der Stadt sind Anti-„Stuttgart 21“-Aufkleber verteilt, die von den Befürwortern in einer Aktion „Abkratzen für Stuttgart 21“ entfernt werden. Anschließend sieht man eine ältere Dame, die geschickt und mit dem nötigen Werkzeug den nächsten Aufkleber platziert. Bereits zum Auftakt des Films hört man eine vertraute Melodie, die das ganze Konfliktfeld der Auseinandersetzung auf den Punkt bringt: Während die Kamera Impressionen sammelt, erklingt Ennio Morricones Musik aus einem Sergio-Leone-Western. Ganz zum Schluss gibt es dann einen Ausschnitt aus Verdis „Die Macht des Schicksals“. Immerhin: Daran glaubt in Stuttgart niemand mehr.  

Ulrich Kriest

Dieser Text ist zuerst erschienen im: film-Dienst

 

Alarm am Hauptbahnhof – Auf den Straßen von Stuttgart 21
Deutschland 2011 – Regie: Wiltrud Baier, Sigrun Köhler – FSK: ab 6 – Länge: 90 min. – Start: 17.11.2011

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