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35 Rum

Herbst der Züge

 

Claire Denis’ stiller Film "35 Rum" verführt mit lauter angefangenen, angedeuteten, abgebrochenen Geschichten, denen man folgen kann oder nicht

 

Dieser Film handelt von nichts; von nichts Außergewöhnlichem, von nichts Dramatischem, auch wenn einmal ein Mann tot auf den Gleisen liegt. Der Tod berührt den Zuschauer, aber der Film steuert nicht auf ihn zu, schlachtet ihn emotional nicht aus, und vermutlich liegt man nicht falsch in der Annahme, dass die Gleise für diesen Film, für sein Tempo, seine Struktur, und damit den Eindruck, den er hinterlässt, keine geringere Rolle spielen als der tote Mann, der auf ihnen liegt.

 

35 Rum heißt der neue Film von Claire Denis, und die Dinge, die sich darin ereignen, scheinen einfach so zu passieren. Oder auch nicht, wie der Titel zeigt: Was es mit den 35 Rum auf sich hat, wird der Zuschauer nicht erfahren. Einmal, als Lionel (Alex Descas), der als Lokomotivführer bei der Pariser Stadtbahn arbeitet, und seine Kollegen Abschied feiern von René (Julieth Mars-Toussaont), dem Mann, der später auf den Gleisen liegen wird, weil er diesen Abschied nicht verschmerzen konnte, einmal also, bei dieser Feier, wird erwähnt, dass es eine Geschichte zu den 35 Rum gibt, aber Lionel winkt ab; er will sie nicht erzählen. Am Ende, als ein Fest gefeiert wird in einer Bar, trinkt Lionel die 35 Rum, und Gabrielle (Nicole Dogué), die ein wenig aufdringlich-mütterliche Nachbarin, schüttelt den Kopf, aber die Geschichte dazu wird wieder nicht erzählt; man erfährt lediglich, dass die 35 Gläser Alkohol der Feier eines einzigartigen Moments dienen.

 

Claire Denis’ Film ist ein stiller Torso, und das macht ihn so verführerisch. Es gibt lauter angefangene, angedeutete, abgebrochene Geschichten, denen man folgen kann oder nicht. Es gibt Motive, Gesten, Bilder, die sich wiederholen, ergänzen, kommentieren. Auf eine Art ist 35 Rum etwa ein Fortbewegungsfilm, der immer wieder den über die Schienen gleitenden und doch statischen Blick aus dem Führerhäuschen von Lionel aufnimmt, der Lionel auf dem Moped zeigt, mit dem er zu seiner Arbeit als Lokführer fährt, der einmal zeigt, wie das Taxi von Gabrielle durch den Regen geschoben werden muss von der „Familie“, wie sich die Bewohner des Hauses nennen, Lionel und seine Tochter Joséphine (Mati Diop), der geheimnisvolle Noé (Grégoire Colin) und eben Gabrielle.

 

35 Rum ist auch ein Film der Abschiede, eine Variation über das Gehen. René muss mit seiner Arbeit aufhören, ohne zu wissen, was er sonst im Leben soll, Noés Katze ist tot und er will nach Gabun, ohne zu wissen, was er da sucht, Joséphine ist alt genug, um bei Lionel ausziehen, der sie dennoch vermissen wird. Von all diesen Entscheidungen scheint der Film zu plaudern, bagatellisiert werden sie dadurch nicht.

 

Am genauesten gesagt, erzählt 35 Rum das, was zwischen der Anschaffung von zwei Reiskochern in einem Haushalt liegt. Das tut er mit einer liebevollen Leichtigkeit, die nur manchmal ins Pathetische rutscht; und Ingrid Cavens Auftritt in Lübeck ist wirklich exzeptionell. Nichts mag so fremd wirken in einem Film aus den Pariser Vorstädten wie die postkartenhafte Aufgeräumtheit der deutschen Kleinstadt. Und doch ist dieser Blick auf Lübeck wohltuend, weil er so anders ist etwa als der geschichtsschwer-dekorierte aus Breloers Fernsehfilm über die Buddenbrooks. Claire Denis lehrt den Zuschauer das Sehen, gerade weil ihr Film von nichts zu handeln scheint

 

Matthias Dell

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Freitag

 

35 Rum

Deutschland / Frankreich 2008 – Originaltitel: 35 Rhums – Regie: Claire Denis – Darsteller: Alex Descas, Mati Diop, Grégoire Colin, Nicole Dogué, Julieth Mars-Toussaont, Jean-Christophe Folly, Ingrid Caven – Fassung: O.m.d.U. – Länge: 105 min. – Start: 5.3.2009

 

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