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Die
zwölf Geschworenen
Berechtigte
Zweifel
"I
don’t really know what the truth is.
I
don’t suppose anybody will ever really
know.
Nine of us now seem to feel
that
the defendant is innocent, but
we’re
just gambling on probabilities.
We
may be wrong. We may be trying
to
let a guilty man go free, I don’t know.
Nobody
really can, but we have a
reasonable
doubt and that’s something
that’s
very valuable in our system."
(Geschworener
No. 8)
Es
ist schwül, die Hitze macht allen Mühe, einen klaren Kopf zu bewahren.
Selbst dem Richter ist dies anzumerken. Er fordert die Geschworenen auf, zu
beraten und zu entscheiden, einen 18jährigen Jungen für schuldig oder
unschuldig zu erklären, einen Jungen, dem es in seinem Leben nie sehr gut
gegangen ist, der viel geschlagen wurde, ein Puertoricaner aus einem Viertel,
in dem Armut und Gewalt ihre Spuren hinterlassen. Der junge Mann soll seinen
Vater erstochen haben. Die Beweise scheinen erdrückend wie die Hitze an
diesem Tag. Die zwölf Geschworenen, alle Männer, ehrbare Männer,
die zum Teil schon des öfteren als Geschworene tätig waren, zum Teil
aber auch das erste Mal, ziehen sich zurück in einen spartanisch eingerichteten
Raum mit Waschraum nebenan. Der Ventilator funktioniert nicht. Auf dem langen
Tisch liegen Zettel und Bleistifte.
Sidney
Lumet ("Hundstage", 1975; "Network"), der bis dahin nur
für das Fernsehen gedreht hatte, gelang mit "12 Angry Men", seinem
ersten Kinofilm, 1957 ein durchschlagender Erfolg. Mit immerhin vier Oscar-Nominierungen
und etlichen anderen Preisen begann Lumets Karriere als Regisseur – auch wenn
der Film zunächst im Kino nicht die erwarteten Einnahmen zeitigte. Inzwischen
gehört der Film jedenfalls zu den Klassikern der Filmgeschichte – ein kammerartiges
Spiel, das sich (bis auf die Anfangsminuten) in einem Raum zuträgt, ein
nur 96 Minuten dauernder Film, in dem Lumet den Eindruck erweckt, als ob sich
alles in Realzeit abspielen würde.
Das,
was sich in diesen 96 Minuten zuträgt, ist so dicht, so intensiv, dass
man am Ende den Eindruck hat, man habe selbst fast einen halben Tag in diesem
Geschworenzimmer zugebracht. Die Dramaturgie des Films ähnelt tatsächlich
sowohl der Form nach einem Theaterstück, als auch der Struktur nach einer
klassischen Tragödie: ein "Held" wird vorgestellt (gespielt von
Henry Fonda), der begibt sich in erhebliche Schwierigkeiten (weil er anfangs
als einziger für nicht schuldig stimmt), muss alle nur erdenklichen Probleme
lösen (die anderen zum Nachdenken bringen und ihre Verantwortung fordern),
bis am Schluss sich offenbart, welche Tragik einer der Geschworenen durchlebt
hat.
Alle
Geschworenen scheinen davon auszugehen, dass sie innerhalb kürzester Zeit
nach Hause gehen können. Denn bis auf den Geschworenen No. 8 (Henry Fonda),
einen Architekten, stimmen alle für "schuldig". No. 8 allerdings
ist – trotz der erdrückenden Indizien – davon überzeugt – nein, nicht
dass der junge Mann unschuldig ist, sondern dass erhebliche Zweifel an der Interpretation
der Indizien gegen den Jungen bestehen. Dies ist der Ausgangspunkt und in gewisser
Weise auch der Endpunkt des Films: berechtigte Zweifel an der Schuld dürfen,
so No. 8, nicht zur Verurteilung eines Menschen führen: in dubio pro reo.
Der
andere Ausgangs- und Endpunkt des Films sind die Geschworenen selbst, ganz unterschiedliche
Charaktere, von den zwölf Schauspielern exzellent gespielt. Der Film zeigt
in bestechender Weise, wie die subjektiven, unterschiedlichen Mentalitäten
der Geschworenen ihr Urteilsvermögen beeinflussen – und damit das Leben
eines Menschen aufs Spiel setzen.
Es
lohnt sich ein Blick auf diese zwölf Geschworenen:
No.
1, ein Rugby-Trainer, gespielt von Martin Balsam, leitet die Sitzung der Geschworenen.
Er hält sich lange Zeit aus allem heraus, beschränkt sich auf eine
Art Moderation und auf die verschiedenen Abstimmungen während der Auseinandersetzung.
No.
2 (John Fiedler), ein unscheinbarer Bankangestellter, unsicher, anfangs kaum
fähig, sich ein eigenes Urteil zu bilden.
No.
3 (Lee J. Cobb), ein harter Geschäftsmann, ja unbarmherziger Mensch, der
so überzeugt ist von der Schuld des Angeklagten, dass ihn kein auch noch
so überzeugender Einwand davon abbringen kann.
No.
4 (E. G. Marshall), ein Makler, ein intelligenter, ruhiger und beherrschter
Mann, der die Indizienkette gegen den jungen Mann für überzeugend
hält, andererseits aber aufgeschlossen für stichhaltige Argumente
ist.
No.
5 (Jack Klugman), ein ruhiger, freundlicher Mensch, selbst unter ärmlichen
Verhältnissen aufgewachsen, aber unfähig, aus den Indizien auch Gegenteiliges
herauslesen zu können.
No.
6 (Ed Binns), ein zunächst ebenfalls von der Schuld des Jungen überzeugter
Mann, den jedoch nach und nach die Zweifel überzeugen.
No.
7 (Jack Warden), uninteressiert, gleichgültig, ein Egoist par excellence,
der mit Zynismus reagiert, der nur eines im Kopf hat: das Baseballspiel am Abend
nicht zu verpassen.
No.
8 (Henry Fonda), der einzige, der die Aufgabe der Geschworenen (zumindest anfangs)
ernst genommen hat, nur dann für schuldig zu plädieren, wenn die Schuld
des Angeklagten zweifelsfrei erwiesen ist, der aber erhebliche Zweifel an den
Zeugen und Indizienbeweisketten äußert. Fonda spielt hier abermals
die Rolle des ehrlichen, Wahrheit und Gerechtigkeit liebenden Amerikaners, die
ihm lange Zeit auf den Leib geschnitten schien.
No.
9 (Joseph Sweeney), ein alter, intelligenter Mann, aber eben auch ohne Erfahrung,
geschlagen von der Beweisführung des Anklägers, einer, der als zweiter
neben No. 8 für nicht schuldig plädiert und sodann wesentlich dazu
beiträgt, Zweifel an der einzigen angeblichen Zeugin zu nähren.
No.
10 (Ed Begley), unbeherrscht, in der Aufregung über das "Ausscheren"
von No. 8, fast kollabierend, überzeugt von der Schuld des Jungen wegen
dessen Herkunft, nicht wegen der Indizien, voll von Vorurteilen gegen das Milieu,
in dem der Angeklagte aufgewachsen ist.
No.
11 (George Voskovec), ein aus der Schweiz stammender Uhrmacher, ein gründlicher
Mann, einer, der sich nichts gefallen lässt, der präzise argumentieren
kann wie No. 9.
und
No. 12 (Robert Webber), ein Mann aus der Werbebranche, teils uninteressiert,
die Verantwortung nicht erkennend, die das Amt des Geschworenen ihm aufbürdet,
schwankend, beeinflussbar.
Allein
schon diese Liste der Geschworenen lässt deutlich werden, wie kritisch
dieses System der amerikanischen Justiz zu bewerten ist. Tagesstimmungen, Uninteressiertheit,
Gleichgültigkeit, die Unfähigkeit, Fakten einzuordnen, Zeugen zu beurteilen,
Details zu beachten usw. – wie im Verlauf der Handlung dann immer deutlicher
wird. Um es nochmals zu bekräftigen. Die Geschworenen müssen in diesem
Fall vor allem Indizien(ketten) und die Aussage einer Zeugin bewerten.
Was
spricht gegen den Angeklagten? Vor allem vier Punkte:
1.
Eine Frau mittleren Alters will durch die Fenster eines fahrenden Zuges den
Mord auf der gegenüberliegenden Seite der Gleise in der Wohnung von Täter
und Opfer beobachtet haben.
2.
Ein alter Mann will in seiner Wohnung den Streit zwischen Täter und Opfer
(dem Vater) gehört und den Angeklagten zur Tatzeit die Treppe hinunter
laufen gesehen haben.
3.
Der Junge hatte am Tatabend ein angeblich in dieser Art seltenes Klappmesser
gekauft, mit dem sein Vater ermordet worden sein soll.
4.
Das Alibi des Angeklagten ist unglaubwürdig. Er behauptete, zur Tatzeit
im Kino gewesen zu sein, kann sich aber weder an den Titel des Films, noch an
Schauspieler usw. erinnern.
Damit
sprechen gegen ihn nicht nur Indizien, sondern auch eine Zeugin. Gegen all diese
Indizien und die Zeugin bringt No. 8 nach und nach Bedenken vor. Und Fondas
im wahrsten Sinn des Wortes ehrbarer Geschworener erreicht auf seine nüchterne,
aber ebenso engagierte, ruhige, aber ebenso bestimmte Art, dass allmählich
auch andere Geschworene berechtigte Zweifel an der Schuld des jungen Puertoricaners
äußern.
Die
Kamera Boris Kaufmans hält uns eh schon auf engem Raum fest. Während
wir aber zu Anfang noch von oben auf den Raum und die sich versammelnden Geschworenen
herabblicken, nähert sich Kaufmans Kamera immer mehr einzelnen Geschworenen
oder kleinen Gruppen von ihnen. Mimik, Körpersprache und Dialoge beherrschen
die Szenerie, nur selten unterbrochen von Pausen im Waschraum oder am Fenster,
wo alle auf den erwünschten Regenguss warten, der die Hitze vertreiben
soll. Diese bedrückende Atmosphäre korrespondiert mit der schwierigen,
für den Angeklagten lebensgefährlichen Auseinandersetzung zwischen
den Geschworenen. Durch den Einsatz verschiedener Linsen erreichten Lumet und
Kaufman, dass das Zimmer anfangs groß, im weiteren Verlauf der Handlung
aber immer enger wirkt. Dieser visuelle Effekt unterstreicht die sich zuspitzende
Auseinandersetzung der Männer, aber auch, dass durch die Argumentation
von No. 8 auch immer mehr andere Geschworene den Sinn ihres Tuns erst richtig
begreifen, ihre Verantwortung erkennen und sich selbst und den anderen Fragen
stellen, auf die sie zuvor nie gekommen wären – also die wachsende Dichte
der Handlung, die in einer Art "Aneinander-Rücken" der Personen
zum Ausdruck kommt.
Im
Verlauf der Handlung wird auch deutlich, aus welch unterschiedlichen Gründen
ein Jury-Mitglied nach dem anderen für "nicht schuldig" plädiert.
Während die einen ebenfalls in ihren Zweifeln bestärkt werden, sind
andere nur Mitläufer, Schwankende oder bis zum Schluss Gleichgültige
(wie No. 7). Daneben werden Vorurteile aufgedeckt oder auch private Probleme
enthüllt, die einzelne Jury-Mitglieder in ihrer Entscheidung für "schuldig"
beeinflusst hatten.
Die
Tragik des Geschehens mündet im Zusammenbruch eines Geschworenen, der aus
tiefer Enttäuschung aufgrund falscher Erziehungsvorstellungen und aufgrund
daraus resultierender Rachegefühle bis zuletzt an seiner Entscheidung für
"schuldig" festgehalten hatte.
Lumet
gelang mit diesem Film ein eindringliches Plädoyer für Verantwortung,
die Bedeutung von berechtigten Zweifeln an der Schuld (und damit an der Rechtmäßigkeit
der Bestrafung) auch bei Bestehen der Ungewissheit, ob ein Angeklagter wirklich
die ihm vorgeworfene Tat begangen hat, und damit auch eine intensive Auseinandersetzung
mit den kritischen Punkten des Jury-Systems. Daneben bleiben aber auch die im
Film nicht weiter auftretenden anderen Beteiligten des Prozesses nicht außerhalb
kritischer Einwände. Der Angeklagte hatte einen Pflichtverteidiger, der
die Fragen von Jury-Mitglied No. 8 eigentlich hätte stellen müssen,
dessen Unfähigkeit oder Unwillen als schlecht bezahlter Pflichtverteidiger
ihn aber nicht dazu veranlassten, dies zu tun. Auf der Gegenseite ermittelte
und interpretierte der Ankläger nur das, was zum Nachteil des jungen Mannes
gereichte – wesentliche Voraussetzungen dafür, dass elf Jury-Mitglieder
von der Schuld des Angeklagten überzeugt waren.
Wertung:
10 von 10 Punkten.
Prädikat:
Besonders wertvoll.
Ulrich
Behrens
Der
Film ist bei MGM auch auf DVD erhältlich und bietet den Schwarz-Weiß-Film
in einer überzeugenden Bild- und Tonqualität in fünf Sprachen
(sowie Untertiteln in zehn Sprachen sowie in einer Fassung für Hörgeschädigte).
Dieser
Text ist zuerst erschienen in http://www.follow-me-now.de
Die
zwölf Geschworenen
(12
Angry Men)
USA
1957, 96 Minuten (DVD: 92 Minuten)
Regie:
Sidney Lumet
Drehbuch:
Reginald Rose
Musik:
Kenyon Hopkins
Kamera:
Boris Kaufman
Schnitt:
Carl Lerner
Produktionsdesign:
Robert Markel
Darsteller:
Martin Balsam (Geschworener No. 1), John Fiedler (Geschworener No. 2), Lee J.
Cobb (Geschworener No. 3), E. G. Marshall (Geschworener No. 4), Jack Klugman
(Geschworener No. 5), Ed Binns (Geschworener No. 6), Jack Warden (Geschworener
No. 7), Henry Fonda (Geschworener No. 8, Mr. Davis), Joseph Sweeney (Geschworener
No. 9), Ed Begley (Geschworener No. 10), George Voskovec (Geschworener No. 11),
Robert Webber (Geschworener No. 12)
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0050083
©
Ulrich Behrens 2005
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