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Uhrwerk Orange

 

 

 

„A Clockwork Orange“ ist ein satirischer Film über eine erschreckende Zukunft, die bereits Gegenwart geworden ist. Der Film thematisiert den Zusammenhang von Sexualität und Gewalt und er stellt in äußerster Zuspitzung Grundfragen der Moral und der Politik. Bei all dem ist „A Clockwork Orange“ auf faszinierende Weise unterhaltend und zugleich abstoßend, was viele Betrachter irritiert und seit der Entstehungszeit des Films für Kontroversen gesorgt hat. Doch der Film thematisiert auch die Rolle und das Verhalten des Zuschauers, seinen Voyeurismus und seine Lust an der Gewalt. „Clockwork Orange“ ist damit auch ein Film über das Kino. Ein Film, der absolut zeitlos ist und auch heute nichts von seiner verstörenden Kraft verloren hat.

 

„Ready for a bit of the old ultra-violence“

 

Das berühmte Eröffnungsbild präsentiert uns Alex (Malcolm McDowell), die Hauptfigur des Films. Alex richtet seine geschminkten Augen mit spöttischem Lächeln direkt auf den Zuschauer. Und er spricht den Zuschauer direkt an, denn er ist es, der aus dem Off das Geschehen kommentiert. Seine Geschichte wird erzählt. Damit ist das zentrale Spannungsfeld des Films konstruiert. Denn Alex, dessen Sicht der Dinge wir für mehr als zwei Stunden einnehmen müssen, hat so gar nichts von einem Helden, mit dem man sich gerne identifizieren mag.

 

Während die Kamera langsam rückwärts fährt, in einer der für Kubrick so typischen langen Kamerafahrten, wird der Aktionsraum des Helden vor unseren Augen entfaltet. Wir finden Alex und seine Droogs, d.h. die drei Mitglieder seiner Gang, Georgie (James Marcus), Dim (Warren Clarke) und Pete in der Korova-Milchbar. Die Szenerie ist aufs äußerste durchstilisiert und die vier Gangmitglieder sind arrangiert wie auf einer Bühne. Ihr Äußeres ist bewusst provozierend. Zu ihrer weißen Kleidung mit schwarzen Springerstiefeln tragen sie Bowlerhüte oder Zylinder. Über der Hose liegt eine Art Schutz für die Geschlechtsteile, der diese zugleich auffällig betont. Als Tische und Dekor dienen weiße Figuren, die nackte und angekettete Frauen darstellen. Das bevorzugte Getränk, Milk-plus, d.h. Milch, die mit Drogen versetzt ist, bezieht man aus den Brüsten dieser Figuren. Diese Anfangsszene liefert die Tonlage für den ganzen Film. Wir befinden uns in einer nahen Zukunft, die unschwer als leicht verfremdete Gegenwart empfunden wird, heute noch mehr als vor 30 Jahren zur Entstehungszeit des Films. Diese Welt ist gekennzeichnet durch vollkommene Freizügigkeit und zugleich äußerste Geschmacklosigkeit. Sexualität und die Darstellung von Sexualität ist allgegenwärtig und wir werden ihr im Film noch oft begegnen. Die für Kubrick so typischen Phallussymbole erscheinen in Gestalt von Penismasken, Schlangen Lutschern oder Stöcken. Diese Welt ist schrill und kennt keine Tabus. Ihr sind alle Maßstäbe abhanden gekommen.

 

Die Bande bringt sich in Stimmung und startet zu einer sich steigernden Gewaltorgie in die Nacht. Sie sind „ready for a bit of the old ultra-violence“, wie Alex uns mitteilt. Drei Stationen der Gewalt werden wir miterleben, drei Stationen bei denen sich die Gewalt von Mal zu Mal steigert. Als erstes verprügeln Alex und seine Droogs einen alten Penner (Paul Farrell), der bezeichnenderweise beklagt, dass es kein „law and order“ mehr in der Welt gibt. Als zweites treffen sie in einem Theater auf Billy Boy und seine konkurrierende Bande, die gerade dabei sind ein Mädchen zu vergewaltigen, das alte „in-out-Spiel“ zu spielen, wie Alex dies nennt. Noch stärker als bei der gemeinschaftlichen Misshandlung des Penners wird hier Gewalt als Ritual inszeniert. Die Schlägerei zwischen den beiden Banden wird als Tanz zu den Klängen von Rossinis „Diebischer Elster“ choreographiert.

 

Nach einer rasenden Autofahrt, bei der sie andere Fahrzeuge von der Fahrbahn drängen, um sich den „real kick“ zu verschaffen, halten Alex und seine Kumpane vor einem Haus mit der schlichten Aufschrift „Home“. Maskiert mit langen phallusartigen Nasen verschaffen sie sich Zutritt und verprügeln die Bewohner, Mr. Alexander (Patrick Magee) und seine Frau (Adrienne Corri). Alex singt den Filmklassiker „Singin in the rain“ und seine Schläge treffen im Takt des Liedes. Die Frau wird gefesselt und ihr Kleid aufgeschlitzt. An dieser Stelle grölt Alex die Zeile „Ready for love“. Die ganze Szene ist mit der Handkamera gefilmt, so dass der Zuschauer sich mitten im Geschehen befindet. Alex fordert Alexander und zugleich uns Zuschauer auf, gut zuzusehen. „Viddy well, little brother. Viddy well“, ruft er als Aufforderung in die Kamera. Der Zuschauer sieht die Vergewaltigung mit Alexanders Augen aus seiner Perspektive und dann nur noch seine weit aufgerissenen Augen. Der Zuschauer wird zum Voyeur und zugleich zu Alex unfreiwilligem Komplizen.

 

Kubrick zeigt uns die Gewaltorgie im ersten Abschnitt des Films aus der Sicht von Alex, ohne zwischengeschaltete Kommentierung oder Wertung. Die Gewalt wird als nackte Gewalt gezeigt und sie wird durch die begleitende Musik und Choreographie ästhetisiert. Hier von Gewaltverherrlichung zu sprechen, wäre aber absurd. Kubrick beschönigt nichts, aber er lässt uns Gewalt erleben, wie Alex sie erlebt: Als Trip und als Selbstbestätigung. Alex hat seinen Spaß daran. Und der Zuschauer fühlt sich unbehaglich, weil er einerseits zur Teilhabe an diesem Spaß eingeladen wird, die Aktionen aber gleichzeitig missbilligen muss.

 

Dieser Zwiespalt steigert sich noch in den folgenden Szenen. Wir finden die Bande am gleichen Abend wieder in der Milchbar. In einer Gruppe langweilig gezeichneter Kulturmenschen singt eine Frau Beethovens „Freude schöner Götterfunken“ und Alex fühlt einen Schauder der Ergriffenheit. Er schlägt Dim, einen seiner Droogs, der sich über den Gesang lustig machen will, was zu Missmut in der Bande führt. Zu Hause in Alex Zimmer finden wir obszöne Malereien an der Wand und eine Nippesfigur aus vier tanzenden Christussen mit Wundmalen. Alex wirft die Beute des Abends, Geld und Schmuck, achtlos in seinen Bettkasten, wo er eine Schlange als Haustier hält. Dann hört er Beethovens 9. Symphonie und fantasiert dazu verzückt „lovely pictures“: Vampire, gehängte Frauen, Explosionen, die unschwer als Masturbationsphantasien erkennbar sind.

 

Alex erweckt Abscheu aber gleichzeitig Faszination. In einer Welt, der nichts mehr heilig ist, in der Sex und Gewalt allgegenwärtig sind und als Staffage dienen, inmitten gleichgültiger und abgebrühter Menschen ist Alex der einzig wirklich Lebendige. Er ist es, der Sinn für Kunst hat, den die Kunst wirklich berührt, ja der selbst zum Künstler wird, indem er sein Leben als Gesamtkunstwerk stilisiert. Die materielle Beute seiner Raubzüge ist ihm gleichgültig, er sucht das Abenteuer, den Kick. Aber diesen Kick erlangt er über nackte Gewalt. Alex ist ein Raubtier. Er hat keine moralischen Maßstäbe, keine Werte. Seine Maßstäbe sind rein ästhetisch. Es ist Kubricks Leistung, diesen Zwiespalt erlebbar zu machen. Dies erklärt auch, warum so viele Zuschauer sich bei diesem Film so unbehaglich fühlen. Kubricks Darstellung liegt jenseits aller geläufigen Urteile der political correctness und vermittelt damit eine Wahrheit, die schmerzt und verunsichert.

 

Dies wird noch deutlicher im nächsten Abschnitt des Films, wo Kubrick uns einen tieferen Einblick in Alex gesellschaftliches Umfeld bietet. Wir lernen zunächst seine lächerlich harmlosen Eltern kennen. Sie haben keine Ahnung, was Alex nachts treibt und wollen es gar nicht wissen. Sie haben keinerlei Autorität und nicht die geringste Vorbildfunktion. Der Film zeigt ihre Lächerlichkeit bis in die Kleidung und Wohnungseinrichtung hinein. Die Mutter (Sheila Raynor) schluckt Tabletten, um zu funktionieren. Kubrick hält der modernen Gesellschaft hier einen sarkastischen Spiegel vor. Dann erhält Alex Besuch von Mr. Deltoid (Aubrey Morris), seinem Bewährungshelfer. Nachdem die Familie als Institution gescheitert ist, begegnen wir jetzt der Autorität des Staates. Doch ihr Vertreter entpuppt sich als zynischer Sadist. Der Bewährungshelfer droht Alex mit dem Erziehungsheim und schlägt ihn dann in die Geschlechtsteile. Die Antwort des Staates auf Gewalt ist Gegengewalt.

 

Nach einer Slapstick-Einlage die mit überhöhter Geschwindigkeit abläuft, und in der Alex mit zwei Mädchen zu Rossinis Tell-Ouvertüre Sex hat, kommt es zur Konfrontation mit seiner Bande. Die Droogs rebellieren gegen Alex als Führer, sie wollen nicht mehr nur Abenteuer sondern „big big money“. Sie wollen nicht anarchisch gewalttätige Happenings, sondern sie wollen Beute machen und reich werden. Die anderen Droogs entpuppen sich als Kriminelle im landläufigen Sinn. Sie repräsentieren eine negative Gegengesellschaft, die trotz ihrer Umkehrung von Recht und Gesetz dennoch mit der bürgerlichen Gesellschaft im Ziel materiellen Verdienstes übereinstimmt. Alex steht außerhalb jeder Ordnung. Er ist vielleicht der „böseste“ von allen und ragt doch über sie hinaus. Noch einmal gelingt es Alex, seine Droogs durch brutale Gewalt zu disziplinieren. Doch seine Autorität hat ihre Selbstverständlichkeit verloren.

 

Beim nächtlichen Überfall auf das Anwesen der „Cat Lady“ (Miriam Karlin), einer allein lebenden Künstlerin, schlagen die Droogs Alex nieder und überlassen ihn der Polizei. Zuvor dringt Alex allein in das Haus der Künstlerin ein und wird von ihr überrascht. Alex greift sich eine riesige Penis-Plastik, ein „very important work of art“, wie die Künstlerin entsetzt schreit. Im anschließenden Handgemenge, das wieder mit der Handkamera aus der Nähe gefilmt wird, tötet Alex die Frau mit dem Riesenpenis. Ein besseres Bild für die Verquickung von Sex und Gewalt wurde wohl nie gefunden. Das Haus der Cat-Lady spiegelt auf seine Art die Gesellschaft, in der der Film handelt. Die Wände sind bedeckt mit Bildern sado-masochistischer Erotik. Die Gesellschaft wird beherrscht von Sex und Gewalt und sie vergötzt Sex und Gewalt in ihrer Kunst. Alex ist so das notwendige Produkt dieser Gesellschaft. Doch während die übrigen Mitglieder dieser Welt Sex und Gewalt nur konsumieren und als unverbindlichen Kitzel nutzen, wenn sie sie in ihrer Allgegenwart überhaupt noch wahrnehmen, lebt Alex Sex und Gewalt aktiv aus. Doch jetzt wird Alex verhaftet und von den Polizisten blutig geprügelt.

 

„I like to viddy the old films now and again“

 

Nun beginnt der tragische Teil seiner Geschichte, verkündet uns Alex aus dem Off, denn er wird zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Schilderung der Einweisung ins Gefängnis ebenso wie Alex’ spätere Überstellung in die Ludovico-Klinik sind satirische Glanzstücke Kubricks. In lächerlichen militärischen Ritualen mit doppelten Durchschlagblättern zum Unterschreiben wird Alex zu einer Nummer gemacht. Er wird gedemütigt, man leuchtet ihm in den After und er muss sich übertrieben weit strecken, um bei seiner Unterschrift gleichzeitig hinter einer weißen Linie zu bleiben.

 

Alex wird Gehilfe des Gefängnispriesters (Godfrey Quigley) und wir finden ihn wieder auf einer Bühne, wo er dem Priester assistiert. Dieser predigt in drastischen Bildern von den Strafen der Hölle und zum Abschluss singen alle einen religiösen Hymnus. „Es war nicht erbauend in dieser Hölle, diesem Menschenzoo  zu sein“, erzählt uns Alex. Doch er heuchelt Interesse an der Bibel und erträumt sich dabei die Rolle eines Römers, der Jesus durch die Straßen peitscht.

 

Das zentrale Thema dieses zweiten Teils des Films ist eine neue Behandlungsmethode zur Heilung Krimineller, die so genannte Ludovico-Methode. Da man Platz in den Gefängnissen braucht, soll mit dieser Methode der kriminelle Reflex getötet werden. Das Böse erscheint als Krankheit, die ausgemerzt werden kann. Alex erreicht bei einem Gefängnisbesuch des Ministers (Anthony Sharp), dass er für die Behandlung ausgewählt wird. „Dieser junge Bösewicht wird vollkommen verwandelt werden“, verkündet der Minister in selbstgenügsamer Überzeugung. Seine Haltung ist die eines Sozialingenieurs, der sich daran macht, die Menschen der Gesellschaft korrekt zu konditionieren. Vordergründig erscheint er als Humanist, der Heilung an die Stelle von Höllenstrafen setzt.

 

Der Gefängnispriester bezweifelt, dass diese Technik den Menschen gut machen kann, denn Güte kommt von innen. „Goodness is choosed.“ Wenn ein Mensch nicht wählen kann, hört er auf, ein Mensch zu sein. Man wollte aus dieser Position des Priesters Kubricks eigenen Standpunkt herauslesen, so als sei der Priester das Sprachrohr des Regisseurs. Doch dies ist abwegig. Dazu wird der Priester auch viel zu stark überzeichnet. Er ist nur eine Stimme neben mehreren. Aus einer solchen Interpretation spricht die Sehnsucht nach einer Botschaft. Doch eine solche bietet der Film nicht. Kubrick treibt sein Thema auf die Spitze, doch er bietet keine einfache Lösung, bei der man das selbstzufriedene Gefühl haben könnte, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen. Der Priester steht für die traditionelle Moral, die das Individuum als frei und verantwortlich sehen will mit der Konsequenz von Schuld und Sühne.

 

Der Minister und die Ärzte der Ludovico-Klinik betrachten das Individuum als konditionierbar. Der Mensch kann so eingerichtet werden, dass er zwangsläufig gut ist. Das Verbrechen kann aus der Gesellschaft verschwinden. Alex gelangt in die Klinik, wo er freundlich behandelt wird. Er erhält ein Serum und wird in einem Sessel festgeschnallt. „Wie im Kino“, freut er sich. „I like to viddy the old films now and again“. Alex erhält Sensoren an seinen Kopf und seine Augen werden so fixiert, dass er sie nicht schließen kann. Die Assoziation mit einer Dornenkrone aus Elektroden ist beabsichtigt. Alex ist jetzt der Kinozuschauer, mit dem Unterschied, dass er nicht mehr freiwillig sieht, sondern sehen muss. Und er bekommt Gewaltfilme zu sehen, das was bisher sein Spaß war. Anfangs genießt er, wie realistisch sie gemacht sind. Die Farben der „real world“ wirken nur richtig, wenn man sie auf dem Bildschirm sieht, sagt Alex. Doch die Wirkung ändert sich. Alex sieht eine Vergewaltigung und er fühlt sich zunehmend schlechter. Das lustvolle Sehen wird zum qualvollen Sehen-müssen. Der Arzt, Dr. Brodsky (Carl Duering), der im Original mit deutschem Akzent spricht, erläutert den Vorgang ganz sachlich: Das Serum bewirkt beim Subjekt ein Gefühl von Todesangst, Grauen und Hilflosigkeit. „Gewalt ist eine schreckliche Sache“, sagt Dr. Brodsky zu Alex. „Das lernen Sie jetzt. Sie werden gesund.“ („You become healthy“). Als Aufnahmen von Hitler und aus dem 2. Weltkrieg unterlegt mit Beethovens 9. Symphonie gezeigt werden, schreit Alex in höchster Angst, man möge stoppen, das sei eine Sünde („Stopp it, it’s a sin“) und dann: „I’m cured, praise god“.

 

Dr. Brodsky lässt sich in Kubricks Universum als eine Fortführung von Dr. Strangelove aus seinem Film „Dr. Seltsam, oder wie ich lernte die Bombe zu lieben“ deuten. Dieses Mal ist es keine Maschine, die den Menschen beherrscht, wie in „Dr. Seltsam“ oder auch „2001 – Odyssee im Weltraum“. Der Mensch selbst wird zur Maschine gemacht, er wird „repariert“ wie eine Maschine. Er wird in ein funktionierendes Uhrwerk verwandelt. Der grausame Witz der Behandlung besteht darin, dass Alex durch die Verknüpfung der Reize, nun auch auf seine geliebte 9. Symphonie mit Vernichtungsangst reagiert. Mit seiner Aggression wird Alex auch seine Beziehung zur Kunst ausgetrieben. Ein kleiner Kunstfehler, der die Fragwürdigkeit der ganzen Behandlung und ihrer dahinter stehenden Ideologie veranschaulicht.

 

Der verwandelte und geheilte Alex wird vorgeführt, unter Leitung des Ministers, dessen Partei versprach, Recht und Ordnung wiederherzustellen und die Straßen wieder sicherer zu machen. Er schließt seine Rede mit den Worten: „Observe all!“, die auch als Aufforderung ans Publikum im Kinosaal verstanden werden kann. Man soll genau beobachten und seine Schlüsse ziehen. Wieder werden wir in die Situation von Voyeuren gebracht, und wieder steht Alex auf einer Bühne. Er wird provoziert und misshandelt, doch er lässt alles mit sich geschehen, da ihm übel wird, wenn seine Aggressionen sich melden. Er leckt seinem Peiniger sogar die Schuhe ab, was sein Gefängniswärter (Michael Bates) mit Vergnügen sieht. Als man ein nacktes Mädchen auf die Bühne schickt, ist es Alex’ erster Impuls, sie zu vergewaltigen, doch wieder wird ihm übel und er sinkt hilflos zu Boden, während das Mädchen sich von der Bühne verabschiedet wie eine Ballerina.

 

Der Minister verzeichnet die Behandlung als vollen Erfolg. Jeder Impuls gewaltsam zu handeln, löst bei Alex stärkstes Unwohlsein aus. Nur der Priester protestiert, da Alex keine Wahl hat. Er ist zu keiner moralischen Entscheidung (moral choice) mehr fähig. Doch der Minister weist ihn zurück. Die ethischen Probleme interessieren ihn nicht. Es geht nur darum, das Verbrechen einzudämmen. Alex wird der wahre Christ sein, der die andere Wange hinhält, der lieber gekreuzigt wird als selbst zu kreuzigen. Er ist geheilt. „The point is, that it works!“ Es kommt nur darauf an, dass es funktioniert. Der Film stellt die moralische Haltung des Priesters gegen die funktionalistische Haltung des Ministers. Für den Priester steht die Verantwortung des Individuums im Vordergrund mit der Konsequenz, dass es immer Verbrechen geben wird und dass der Verbrecher dafür sühnen muss. Für den Minister ist es wichtiger, dass die Gesellschaft ohne Verbrechen funktioniert. Am besten funktioniert sie mit konditionierten Individuen. Verbrechen und Strafe werden durch Fehlfunktion und Heilung ersetzt. Doch eine solche Konditionierung hat ihren Preis. Mit dem Ausschalten jeglicher Aggression werden auch Spontaneität und Kreativität vernichtet. Eine Gesellschaft der Sanftmütigen ist auch eine Gesellschaft der Impotenten.

 

„A poor victim of this horrible new technic“

 

Der dritte und letzte Teil des Films bietet in symmetrischer Entsprechung die Umkehrung des ersten Teils. War damals Alex der Täter, so ist er jetzt, nach seiner Entlassung, das Opfer, das von seinen früheren Opfern gequält wird. Sein Platz zu Hause bei den verlegenen und lächerlichen Eltern ist besetzt von einem gewissen Joe (Clive Francis). „I’m completely reformed“, preist Alex sich an, doch der heuchlerische Joe weist Alex im Namen seiner Eltern zurück. Er sei viel mehr Sohn, als Alex es jemals gewesen war. „Du hast andere leiden lassen. Es ist nur gerecht, dass du jetzt leidest“, sagt Joe.

 

Zurück auf der Straße begegnet Alex dem Penner, den er einst misshandelte. Jetzt hat sich das Blatt gewendet und Alex wird von den vereinten Bettlern fast totgeschlagen. Kubrick unterläuft hier die Mitleidssympathie des Zuschauers. Opfer und Täter sind austauschbar, es kommt nur auf die Situation an. Zwei Polizisten retten Alex im letzten Moment und sie entpuppen sich als Dim und Georgie, seine früheren Kumpane. Die Verbrecher von einst sind jetzt Polizisten und sie brauchten für ihren neuen Job nicht einmal umzulernen. Sie prügeln jetzt im Namen von Recht und Gesetz. Sie bringen Alex aufs Land und ertränken ihn fast in einem Wasserbecken.

 

Alex möchte nur noch nach Hause und er gelangt zu dem Haus mit der Aufschrift „Home.“ Die Szene ist fast die gleiche, wie im ersten Teil, nur dass Alexander jetzt im Rollstuhl sitzt und statt seiner Frau, die nach Alex’ Überfall verstarb, jetzt ein trainierter Leibwächter sein Mitbewohner ist. Alexander erkennt Alex nicht als seinen Peiniger, sondern als das Opfer der Ludovico-Methode, die er als liberaler Regierungskritiker bekämpft. Alexander fürchtet einen totalitären Staat und will die Tradition der Freiheit retten. „Freiheit ist alles!“ („liberty is all“) ruft er. Das Volk würde seine Freiheit für ein friedliches Leben verkaufen. Er bezeichnet Alex als „poor victim of this horrible new technic“. Die Vorsehung brachte dieses arme Opfer der schrecklichen neuen Technik hierher.

 

Alexander erscheint als der Vertreter des aufgeklärten liberalen Bürgertums. Seine Position ähnelt der des Gefängnispriesters, wenn für ihn auch weniger die moralphilosophische Wahlfreiheit als mehr die Freiheit als Bürgerrecht im Mittelpunkt steht. Als er jedoch Alex in der Badewanne „Singin in the rain“ singen hört, erkennt er ihn und erinnert sich des Überfalls. Wir sehen Alexander mit weit aufgerissenen Augen und stummem Schrei. Alex ist der gleiche wie vorher, nur jetzt ist er nicht mehr der abstrakte ehemalige Kriminelle, der zur Willenlosigkeit konditioniert wurde, und den man für seine politischen Ziele verwenden könnte. Jetzt ist Alex der persönliche Feind. Das liberale Verständnis verschwindet zugunsten simpler Rache. Alexanders Freunde kommen und Alex wird mit den Klängen der 9.Symphonie regelrecht gefoltert. Er leidet wie ein Tier. „Pain over me like an animal“, klagt Alex aus dem Off. Und Alexander genießt seine Qual in sadistischer Freude. Schließlich stürzt Alex sich aus dem Fenster, um diese „schreckliche böse Welt“ zu verlassen.

 

Kubrick lässt in seinem Film keinen bequemen Ausweg zu. Es ist leicht rational, human und verständnisvoll zu sein, solange man selbst nicht betroffen ist. Ist man selber Opfer, so ist es mit der Humanität schnell vorbei. Der Bettler vom Anfang verliert jede Sympathie, wenn er als der nun stärkere seinen früheren Peiniger noch schlimmer misshandelt. Die Polizei entpuppt sich als staatlich sanktionierte Schlägertruppe und auch der humanistische Schöngeist ist schnell bereit, jede Rücksicht fallen zu lassen. Die Namensgleichheit zwischen Alex und Alexander suggeriert einen Zusammenhang, eine Gemeinsamkeit. Auf den ersten Blick könnte der Unterschied nicht größer sein. Alexander ist gebildet, kultiviert, ein Schriftsteller und Kämpfer für das Menschenrecht. Alex dagegen ist ein Schläger, der seine Befriedigung aus der Gewalt zieht. Doch auf den zweiten Blick entpuppt sich die Kultiviertheit als Tünche. Wenn es hart auf hart kommt, wenn es um die eigene Person geht, ist der Humanist plötzlich genauso bereit ein wehrloses Opfer zu quälen und er kann es genauso genießen. Alex und Alexander verkörpern die zwei Seiten einer Medaille. Und sie sind beide Künstler, wenn auch auf sehr verschiedene Art.

 

Kubricks Pessimismus bezüglich der menschlichen Natur erreicht in „Clockwork Orange“ seinen Höhepunkt. Der Film ist bei aller expliziten Gewalt immer auch eine schwarze Komödie, jedoch so schwarz, dass man nachdem einem das Lachen im Halse stecken blieb, schon wieder laut und irre weiterlachen will. Ist der Mensch böse? Kann er gut gemacht werden? Solche Unterscheidungen verlieren ihre Eindeutigkeit. Das scheinbar und vorgeblich Gute enthüllt sich nur als eine subtilere Form des Bösen. Es gibt im ganzen Film nicht eine wirklich sympathische Figur, die sich zur Identifikation anbieten würde. Kubrick verweigert sich hier konsequent den üblichen Erzählmustern des Unterhaltungskinos. Die Frage, wie mit der Gewalt in der Gesellschaft umgegangen werden soll, wird ad absurdum geführt, indem die Konsequenzen der radikalsten denkbaren Lösung vorgeführt werden. Bosheit und Aggression werden einfach wegbehandelt. Vielleicht hat mancher Innenminister diesen Traum schon geträumt. Doch die Gewalt verschwindet nicht einfach mit dem einzelnen Gewalttäter. Von ihm befreit, kommen ganz andere Formen der Gewalt zum Vorschein. Es zeigt sich, dass Gewalt der Kitt der gesamten Gesellschaft ist. Muss also die ganze Gesellschaft konditioniert werden? Vielleicht verschwindet die Gewalt ja erst dann, wenn der Mensch als solcher wegbehandelt würde. Kubrick will hier keine Antwort geben. Er will nur die Frage und die Dialektik aller möglichen Antworten veranschaulichen.

 

In der letzten Szene finden wir Alex im Krankenhaus. Sein ganzer Körper ist eingegipst, so als steckte er in einem Kokon, aus dem etwas Neues schlüpfen soll. Sein Fall hat Kreise gezogen. Die Regierung ist wegen inhumaner Methoden angeklagt und Alex’ Selbstmordversuch wird dem Minister angelastet. Alex träumte dass die Ärzte das Innere seines Hirns durchstöbert hatten. Und in der Tat, die Behandlung der Ludovico-Methode wurde rückgängig gemacht. Alex ist wieder der alte. Der Minister besucht ihn und bietet ihm eine Stelle mit gutem Gehalt, wenn er der Regierung hilft. Denn mit Alex’ Hilfe lässt sich die öffentliche Meinung wieder drehen. Der Minister und Alex sind jetzt aufeinander angewiesen. Bildlich kommt dies zum Ausdruck, indem der Minister den bewegungsunfähigen und gierig zuschnappenden Alex füttert. Kubrick treibt den Zynismus auf die Spitze, indem nun die böseste aller Lösungen am Ende des Films steht. Der gewalttätige Alex und der menschenverachtende Minister schließen einen Pakt und umarmen sich zu Beethovens Klängen vor der versammelten Presse. „I was cured, all right!“, sind Alex’ abschließende Worte. Alles ist gut.

 

 

Siegfried König

 

 

Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte

 

 

Uhrwerk Orange

A Clockwork Orange

Großbritannien 1971, Regie: Stanley Kubrick, Buch: Anthony Burgess, Stanley Kubrick, Kamera: John Alcott, Musik: Ludwig van Beethoven, Edgar Elger, G. Rossini, Terry Tucker u.a.,. Mit: Malcolm McDowell, Patrick Magee, Anthony Sharp, Godfrey Quigley, Warren Clarke, James Marcus, Adrienne Corri, Carl Duering, Michael Bates, Paul Farrell, Clive Francis, Aubrey Morris, Sheila Raynor, Miriam Karlin.

 

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