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Shanghai-Express

 

Die Kuh auf dem Gleis

Marlene Dietrich, Shanghai Express, 1932

 

Am Anfang ist von einem katastrophalen Fehlurteil zu berichten. Nach Auskunft Josef von Sternbergs (dem man gewiss nicht alles glauben, hier aber einmal unterstellen darf, dass er zumindest richtig zitiert), schrieb die amerikanische Zeitschrift Vanity Fair im März 1932 über den Regisseur von Shanghai Express: „Er vermarktet seinen bekannten Stil für Ausgefallenes in erster Linie mit den Beinen der Dietrich in seidenen Strümpfen und ihrem in Spitzen gehüllten Popo. Er hat aus ihr eine Paramount-Dirne gemacht.“ Obwohl ein Mann nicht nur der Tat, sondern auch der Meditation, konzentriere sich Sternberg in diesem Film „nicht auf den Nabel von Buddha“; seine Liebe gelte vielmehr dem Nabel der Venus. Die letzte Bemerkung sei dem Kritiker geschenkt: Der „Nabel der Venus“ mag als metaphorischer Körperteil noch durchgehen; vielleicht war dies in amerikanischen Intellektuellenkreisen zu Beginn der dreißiger Jahre die bevorzugte Art, witzig zu sein. Alles andere hingegen ist nur durch einen fast schon dramatisch zu nennenden Wahrnehmungsdefekt zu erklären, der – abgesehen von dem reichlich vulgären Vorurteil, das er enthüllt – möglicherweise auf eine bestimmte historische Konstellation zurückzuführen ist.

 

Im März 1932 lag die Berliner Premiere von Der Blaue Engel ziemlich genau zwei Jahre zurück. Seither lebte und arbeitete Marlene Dietrich in Amerika und hatte unter der Regie Sternbergs, vor Shanghai Express, schon zwei Filme, Morocco (1930) und Dishonored (1931), gedreht. Von beiden Filmen lässt sich nicht behaupten, dass ihr kinematographischer Reiz hauptsächlich gewagten Entblößungsnummern der Hauptdarstellerin zu verdanken sei. Marlenes legendärer Erfolgsfilm Der Blaue Engel – von dem man dies auch nicht sagen kann, der jedoch immerhin ihre Beine zur Geltung bringt sowie dem erotisierenden Effekt von Seidenstrümpfen und Spitzenwäsche zu seinem Recht verhilft – kam erst im Januar 1931 in die USA, wurde ein großer Erfolg und muss das Marlene-Image, mit dessen Konstruktion Sternberg gemeinsam mit dem Paramount-Chef Adolphe Zukor noch emsig geschäftigt war, zumindest vorübergehend falsifiziert und zur Sex-Bombe umgedeutet haben: so nachhaltig, dass die Reize Lolas noch ein Jahr später dem Kritiker zu schaffen machten und seiner Phantasie einen Streich spielten, der ihm selbst den klaren Blick und seiner Rezension alle Vernunft geraubt hat.

 

Mit Recht weist Sternberg in seinen Erinnerungen darauf hin, dass Marlene Dietrich als Shanghai-Lily „weder ein Bein noch ein Fußgelenk“ zeigen durfte – ein genial formuliertes Understatement, denn die ganze Dame ist ja in diesem Film ein raffiniert in Szene gesetztes erotisches Understatement, eine elegante Verheißung, eine hauchzarte Epiphanie des Weiblichen – ein Körper, der zu schweben und der Schwere der Welt zu entgleiten scheint. Weder ein Bein noch ein Fußgelenk – dafür, in einer Nahaufnahme, ihre weißen Hände, aus Angst um den Geliebten zum leidenschaftlichen Gebet gefaltet: eine religiöse Ikone, die den Kitsch riskiert und ihm beinahe erliegt. Doch beinahe nur – denn wir sehen Marlenes betende Hände „verfremdet“, durch das Glas eines Abteilfensters und mit den Augen ihres frommen Mitreisenden Mr. Carmichael, der ihr, der Lebedame, zum Gebet geraten hat und nun selbst nicht glauben kann, was er sieht.

 

***

 

Shanghai Express handelt von einer Eisenbahnreise von Peking nach Shanghai im Jahre 1931. Der Film benötigt die ersten zehn Minuten, um zu zeigen, wie die Mitglieder der kleinen Reisegesellschaft, die wir im weiteren Verlauf begleiten werden, auf dem Bahnsteig eintreffen und mit den üblichen Hemmnissen und Verzögerungen ihre Plätze finden. Wir sind in einem einigermaßen unübersichtlichen Land, obendrein herrscht Bürgerkrieg, dennoch setzt sich der Zug fahrplanmäßig unter Klingeln, Pfeifen, Fauchen in schwerfällige Bewegung. Nach kurzer Fahrt kommt er wieder zum Stehen: Auf dem Gleis – wir sind noch immer mitten in Peking und seinen Häuserschluchten, wie sie sich Sternberg vorgestellt hat – lagert breit eine Kuh, die gerade ihr Kälbchen säugt. Jetzt beginnt die Geschichte, denn Marlene Dietrich und Clive Brook haben nun Gelegenheit, sich aus den Fenstern ihrer nebeneinander liegenden Abteile zu beugen und festzustellen, dass sie sich bis zu ihrem Abschied vor fünf Jahren und vier Wochen ganz gut gekannt und sogar ziemlich heftig geliebt haben.

 

Das wäre eine relativ konventionelle Exposition, wäre in den ersten zehn Minuten nicht mehr zu sehen als das Eintreffen von Reisenden und die Abfahrt eines Zuges. Aber diese zehn Minuten sind ein kleines, in sich vollendetes Meisterstück der Filmgeschichte, zusammen gesetzt aus einer Vielzahl jener filmischen „magic moments“, deren Geheimnis sich so schwer erklären lässt, weil man das Ineinander von Bewegung und Licht, Stimmengewirr und Dialogfetzen, kaum merklichen Irritationsmomenten und mikroskopisch kleinen Alltagsepisoden als ein höchst artifizielles mixtum compositum beschreiben müsste – als ein Netz aus unablässig in Bewegung befindlichen Clair-obscur-Effekten, Kamera-Travellings, sanften Überblendungen und „unsichtbaren“ Cuts. Oder auch: als Geflirr von breiten chinesischen Hüten, Tropenhelmen, Sonnenschirmen (und der Menschen, die darunter zu vermuten sind), von Sänften, die vorüber gleiten, und Körben mit Geflügel, die vorbei getragen werden. Der Bahnsteig in Peking, anno 1931, ist ein kleiner multikultureller Kosmos, und Sternberg veranstaltet mit seinem Kameramann Lee Garmes (der dafür den Oscar erhalten hat) den ganzen Zauber keineswegs nur, um den Auftritt einer Primadonna assoluta zu ermöglichen: einen ganz und gar beiläufigen Auftritt, einen schattenhaften Auftritt, das erforderliche Minimum eines Auftritts oder vielmehr: das Understatement eines Auftritts.

 

Zuerst trifft eine Sänfte ein, aber ihr entsteigt nicht Marlene Dietrich, sondern Anna May Wong, die die kleine, todernste Chinesin Hui Fei spielt. Ihr Auftritt wird in der Totalen gezeigt; durch das Menschengewimmel hindurch ist zu sehen, wie sie in den Zug klettert und sich, in der Waggontür stehend, noch einmal umblickt. Immer wieder schaukeln weiße Helme und breitkrempige Hüte wie wandernde Dächer durch das Bild und schieben sich vor unseren Blick. Jetzt nähert sich Mrs. Haggerty, gespielt von Louise Glosser Hale – eine alte Dame, die in ihrem Korb ein Hündchen mitführt, was niemand wissen darf, weil es in China anno 1931 vorgeschrieben war, Haustiere im Gepäckwagen abzugeben. Und nun fährt ein Taxi vor, und aus diesem Taxi stiegt Marlene Dietrich.

 

***

 

Alles verläuft sachlicher, nüchterner, quasi geschäftsmäßiger als zum Beispiel ein Auftritt der Garbo, wie ihn Rudolf Arnheim gesehen hat: „Plötzlich geht da eine junge Frau die Treppe hinunter, öffnet die Tür ihres Wagens, lässt einen Blumenstrauß fallen, sieht dem fremden Mann, der ihn behende aufhebt, einen Moment mit zärtlicher Aufmerksamkeit ins Gesicht, greift dann lächelnd nach den Blumen und ist eingestiegen und fort. Und da befällt einen wie ein entsetzlicher Schreck ein jammervolles Gefühl, als ob man der Frau verfallen sei mit Haut und Haaren.“

 

Marlene hat keine Treppe zur Verfügung, und einen Blumenstrauß hat sie auch nicht. Zuerst sieht man sie gar nicht; das Taxi steht groß im Bild und versperrt die Sicht auf den Fahrgast, der auf der dem Zuschauer abgewandten Seite des Autos aussteigt. Sonnenstreifen durchschneiden das Bild, aber Marlene steht im Schatten; über dem Wagendach taucht ihr Kopf auf, ihr Gesicht ist ganz klein, sie trägt eine schwarze Federboa um die Schultern und als Kopfbedeckung etwas ähnliches wie eine Kappe. Sie geht durch die Passkontrolle, und schon hat unser Blick ihre Gestalt im Durcheinander der chinesischen Hüte, Tropenhelme und Sonnenschirme wieder verloren. In der unaufhörlichen Bewegung von Kamerafahrten, „fließenden“ Schnitten und gleitenden Überblendungen verliert sich ihre Spur und mit ihr die Verheißung, von der jeder ihrer Schritte sprach.

 

Zum Star, so will es scheinen, gehört die Ästhetik seines Verschwindens. Für die Göttlichen der dreißiger, auch noch der vierziger Jahre jedenfalls gilt: Sie steigen aus oder ein – und sind schon fort. Ihre Schönheit ist das Gerücht, das sie zurück lassen und das, so vage die Indizien sein mögen, jene „jammervolle“ Sehnsucht stimuliert, die Arnheim beschrieben hat. Dass sie präsent ist und doch merkwürdig „abwesend“, nicht „greifbar“ (weil unangreifbar) und doch ganz und gar Körper- und Geistesgegenwart: Das macht Marlene Dietrich nicht nur in Shanghai Express (aber hier besonders) zum absoluten Star. Er habe ihr nichts gegeben, was sie nicht schon besaß, sagt Sternberg. „Ich dramatisierte ihre Eigenschaften und machte sie für alle sichtbar.“ Vielleicht hat gelegentlich ein Lichteinfall, eine kalkulierte Unschärfe der Kamera in den Großaufnahmen der Transparenz ihres Gesichts eine (melo-)dramatische Nuance hinzugefügt. Aber der Hang zum Selbst-Dementi, zum Unsichtbarwerden und zur ironischen Negation (auch der eigenen Gefühle) muss diesem Gesicht von Beginn an eingeschrieben gewesen sein.

 

Zum Glück taucht Marlene nach wenigen Minuten wieder auf. Wir sehen sie im Zug: Sie betritt das Abteil, in dem Anna May Wong Platz genommen hat – und zieht sofort vor unseren Augen die Jalousie herunter. Inzwischen sind wir klüger; aus Andeutungen haben wir erfahren, dass diese Dame, die sich so rar macht, „Shanghai-Lily“ genannt wird; ihr Name löst bei allen, die von ihr gehört haben, sehr unterschiedliche, doch in jedem Fall sehr heftige Regungen aus. Danach erfordern die wie ein Stapellauf inszenierte Abfahrt des Zuges und die Kuh auf dem Gleis unsere ganze Aufmerksamkeit. Wenn sich Marlene und Clive Brook, aus den Abteilfenstern gebeugt, unterhalten, sehen wir zum ersten Mal groß und von vorn ihr Gesicht: überflort von einem schwarzen Netz und von Streifen zitternder Schatten.

 

***

 

Die Kuh ist endlich vom Gleis. Die Lokomotive setzt sich von neuem schnaufend in Bewegung, jagt noch eine aufgeregt flatternde Henne mit ihren Küken vor sich her und stampft – ein rumorendes, immer größer werdendes Ungetüm – aus dem Hintergrund frontal auf uns zu. Die Geschichte hat halbwegs begonnen und kann nun weitergehen. „Ein Film ist kein Auto, obwohl er möglicherweise aus ebenso vielen Teilen besteht“, sagt Sternberg. „Man schafft einen Rahmen für den Darsteller. Man lässt einen Hintergrund entstehen, jeder Lichtstrahl hilft oder lenkt ab, der Vordergrund schiebt sich dazwischen, die Luft trägt zur Wirkung bei.“ Aber auch eine Story, zumindest eine Andeutung davon, ist unumgänglich, wenn ein Star glänzen soll: Selbst ein chimärisches Geschöpf wie Shanghai-Lily benötigt ein Ambiente, braucht Luft um sich herum, um sich feenhaft in sie auflösen zu können, wenn ihr danach zumute sein sollte. Eine schlanke junge Frau, die eine Federboa trägt, benötigt einen Laufsteg, für den der schmale Gang eines Eisenbahnwagens besonders gut geeignet ist. Wenn die Eisenbahn ein aus Bretterbuden, gemalten Schriftzeichen und Bahnhofsgeräuschen zusammengezaubertes Phantasie-China durchquert, ist das „Ambiente“ schon fast komplett. Die Landschaft ist nichts – die stampfende Lokomotive und die feine Maschinerie der Gefühle sind alles. Nur ein paar Nebenfiguren, eine Bande finsterer Rebellen und ein Bösewicht sind noch vonnöten, damit eine prekäre Situation entsteht, in der sich die Gefühle entladen können.

 

Da ist Ehrwürden Carmichael (Lawrence Grant), „Doktor der Theologie im Dienst der Menschheit“, der Marlene das Beten beibringt und mi Clive Brook über den Sitz der Seele disputiert. Da sind der rundliche, stets um seine Juwelen besorgte Spieler Sam Salt (Eugene Pallette), der ausgemusterte und schon etwas senile französische Offizier Lenard (Emile Chautard) und der deutsche Invalide Baum (Gustav von Seyffertitz), mutmaßlicher Opiumhändler, stets mies gelaunt und ausländerfeindlich bis in die Knochen. Für seine antichinesischen Injurien wird er von dem zwielichtigen Chang (Warner Oland) mit dem Brandeisen bestraft. Dieser Chang, zunächst ein etwas undurchsichtiger Mitreisender, entpuppt sich nicht nur als skrupelloser Rebellenchef, sondern auch als ein ins asiatische Schreckbild pervertierter Macho von sadistischem Zuschnitt, der zunächst der todernsten Prostituierten Hui Fei, dann aber auch Shanghai-Lily nachstellt, bis er bei dieser abblitzt und von jener mit Hilfe eines Dolchs gerechterweise um sein schurkisches Leben gebracht wird: ein Akt von ebenso tatkräftiger wie wirkungsvoller Frauensolidarität, der in der Filmgeschichte seinesgleichen sucht.

 

Anna May Wong als Hui Fei ist Marlenes dunkle Schwester, „unergründlich asiatisch“, in einem langen, brettartigen Gewand und mit unbewegter Miene, eine nach innen gekehrte, statische Figur – bis sie, ganz beiläufig, das Messer zückt und zur Furie wird. Dann ist sie wieder ganz still.

 

Es ist wenig bekannt, dass Mrs. Wong nur zwei Jahre zuvor in Deutschland eine erstaunliche Karriere gemacht hatte. Der Produzent und Regisseur Richard Eichberg – schon damals als Spezialist ebenso bodenloser wie erfolgreicher Geschmacklosigkeiten gleichermaßen berüchtigt und berühmt – hatte sie in zwei Filmen, Song (1928) und Großstadtschmetterlinge (1929), groß herausgebracht. Im zweiten Film spielte sie das chinesische Modell eines ziemlich verkommenen Malers. Kurz darauf verfasste Hermann Linden für die Frankfurter Zeitung ein Stück Prosa, das aus unerfindlichen Gründen bisher nicht in die Literaturgeschichte eingegangen ist: „Ganz biegsam, ohne jeden Widerstand des Skeletts und doch fest, mit schmalen Hüften, aber so eingezogenen Knien, dass nicht einen Augenblick die Frau vergessen werden kann. Der Ansatz von Schultern, nicht minder der der Schenkel ist rein und genau und beinahe innig. Sah man eine klarere Halslinie? So gespanntes und zugleich blütenkühles Fleisch? Das Ganze regt sich in den Kadenzen einer fremden Musik, zurückhaltend und gerade deshalb ungemein intim. Das Gesicht, immer beschattet von dem glänzenden Haarzug, immer überflogen von den winkelnden, starrenden Wimpernblitzen, wurde mittlerweile ein wenig gefüllter, und um die Nase, die Oberlippe herum gibt es ein gewisses Nachgeben. Ansatz von Vergnügen, durchspielt von seltsamen Humoren. Dieses Gesicht steht im Dienst einer messerscharfen Mimik, deren Skala vom tödlichen Versteinern bis hinauf in eine unnachahmlich zarte Koketterie läuft.“

 

In Shanghai Express sehen wir nur die tödliche Versteinerung. Anna May Wong hat aus ihrer kleinen, etwas unheimlichen Rolle eine gefährliche chinesische Skulptur gemacht.

***

Clive Brook spielt den britischen Captain und Militärarzt Donald Harvey. „Doc“ nennt ihn Marlene mit jener Zärtlichkeit, die nur die Liebe eingibt, eine Liebe, die angesichts dieses knochentrockenen und stocksteifen Repräsentanten des Empires reichlich verchwenderisch erscheint. Was hat „Doc“ die letzten fünf Jahre und vier Wochen getrieben? „Dienstroutine – Indien, England, eine wissenschaftliche Reise…“ Das genügt. Komplizierter ist schon die Liebesgeschichte zwischen den beiden, die damals als eine Geschichte des zerstörten Vertrauens abbrach – und nun als Probe aufs Exempel (wer vertraut wem – mehr oder weniger?) ihre melodramatisch aufgeladene Fortsetzung findet.

 

Shanghai-Lily betätigt sich dabei als eine etwas perfide Drahtzieherin. In der Schlüsselszene des Films fragen sich beide, wie und warum damals alles in die Brüche ging. Die alte Story: Er hat sie verlassen, weil sie einem anderen schöne Augen machte, nicht ernsthaft, sondern nur, um sich seiner Liebe zu vergewissern. Clive Brook philosophiert, als er das kapiert hat, melancholisch vor sich hin, woraufhin Marlene ihn kurz entschlossen küsst. (Sie küssen sich nur zweimal in diesem Film; dies ist der erste und entscheidende Kuss.) Nun aber kommt das retardierende Moment: Der Zugschaffner händigt Marlene eine Depesche aus. Brook: „Von einem Verehrer?“ Marlene: „Nein.“ Er glaubt es ihr. Dann überreicht sie ihm das Telegramm; natürlich stammt es von einem Liebhaber, und während Harvey von neuem in düsteres Brüten versinkt, fasst Shanghai-Lily die Lage so zusammen: „Damals brauchte ich dein Vertrauen. Du gabst es mir nicht. Jetzt gibst du es mir, aber ich brauche es nicht, und ich verdiene es nicht.“

 

Möglicherweise hat die Art, in der Marlene diesen Satz sagt – voller Wehmut und voller Spott über sich selbst und die verquere Welt – jenen durch die Literatur geisternden Journalisten inspiriert, der die sonderbare These aufstellte, der Verstand dieser Dame sei dem Napoleons, Cäsars, Mussolinis und Lenins ebenbürtig.

 

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Wie dem auch sei: Der Rest ist Kolportage. Die Rebellenbande wird gebraucht, damit Harvey als Geisel in ihre Hände fällt. Der widerliche Chang ist unersetzlich, weil er von Marlene jenes Opfer fordert, in das schon die biblische Judith als Gefangene des Holofernes nur zum Schein einwilligte. Anna May Wong sorgt dafür, dass er einen ähnlichen Tod stirbt, wie ihn einst die Bibel für den Tyrannen vorgesehen hatte. Und ein unübersichtliches Hin und Her von Geiselnahme und Geiselübergabe genügt, um auch uns glauben zu machen, dass der mental ohnehin leicht betäubte Militärarzt im Dienste Seiner Majestät wirklich davon überzeugt sei, Marlene wäre aus purer Wollust bereit gewesen, ins Bett des bösen Chang zu schlüpfen.

 

Schließlich: der Schauplatz, oder vielmehr: der Dreh-Set. Er ist ein Kuriosum der Filmgeschichte. Sternberg hat die Szenen, soweit sie sich nicht in der Eisenbahn abspielen, in einer labyrinthisch fotografierten Räuberhöhle angesiedelt, um auch ganz sicher zu gehen, dass der Zuschauer jedes konkrete Raumgefühl verliert. Um in diesem halbdunklen Durcheinander ein passables Massaker zu inszenieren, reicht es aus, ein Maschinengewehr knattern zu lassen und danach einen Haufen toter Regierungstruppen zu zeigen. Viel wichtiger jedoch sind die vielen transparenten Vorhänge in Changs Hauptquartier, welche die räumliche Situation vollends mystifizieren – und Marlenes Gestalt in die Aura einer Unerreichbarkeit hüllen, die nicht nur den armen Chang in Raserei versetzen muss. Wenn sie dem Bösewicht ins Gesicht sagt, dass sie Harvey und keinen anderen liebe, und wenn sie selbst in aussichtsloser Lage den Mut aufbringt, dem Feind an die Gurgel zu gehen, wird offenbar: In dieser Frau ist ein Löwenmut beheimatet, der mit der diaphanen Erscheinung eine seltene, in der Geschichte der Stars wohl einmalige „discordia concors“, eine mystische Einheit der Gegensätze bildet.

 

***

 

Er habe noch nie zuvor eine so schöne Frau kennen gelernt, die so wenig beachtet und so unterschätzt worden sei – so Josef von Sternberg über Marlene Dietrich. Er wollte damit natürlich sagen, dass er es gewesen sei, der – im hartnäckigen Clinch mit den von Blindheit geschlagenen Ufa-Bossen bei der Auswertung der Probeaufnahmen zu Der Blaue Engel – Marlene aus der Nichtbeachtung, ja aus der Unsichtbarkeit heraus geholt und auf die Gipfel ihrer Triumphe geführt habe. Über seine Arbeit mit dem Star teilt er in seinen Erinnerungen mancherlei Einzelheiten mit – vergebens sucht man jedoch nach Hinweisen, worin denn die Schönheit dieses „Geschöpfs“ (als welches sich Marlene gegenüber ihrem „Schöpfer“ Sternberg stets bezeichnet hat) und das Faszinosum ihrer Erscheinung bestanden habe. Statt dessen ist eine Anweisung überliefert, wie ein weibliches Gesicht zu fotografieren sei: „Man sollte es betrachten, als seien die Augen Seen, die Nase ein Hügel, die Wangen breite Wiesen, der Mund ein Blumenbeet, die Stirn der Himmel und die Haare Wolken.“

 

Die Urheberrechte an diesem metaphernträchtigen Konstruktionsschema liegen bekanntlich beim Prediger Salomo; seine Lyrismen sind in den folgenden Jahrtausenden durch die Literaturen gewandert, erlebten noch einmal eine Blüte in den streng formalisierten Topoi der barocken Dichtung und bezeugen offenbar bis zum heutigen Tag unser Unvermögen, das „Naturschöne“ einer weiblichen Gestalt, eines weiblichen Gesichts anders zu beschreiben als durch Anleihen bei der schönen Natur selbst oder vielmehr einer keineswegs unberührten, sondern durch „Blumenbeete“ kosmetisch veredelten Landschaft. Dass der Mann ein Ebenbild Gottes, das Weib hingegen so etwas wie der fleichgewordene Garten Eden oder, ekstatisch gesprochen, ein Abbild des Universums sei – dieser scholastische Bezug ist hinter der literarischen Semantik im Laufe der Zeit zurück getreten. Die Close-ups der Kinematographie haben das weibliche Antlitz, gesehen als Landschaft, in einem neuen Medium wieder in seine Recht eingesetzt. Liegt über Marlenes Gesicht – in jener von Andy Rand bewunderten Szene, in der sie auf der freien Eisenbahnplattform sitzt und mit Harvey über die Vergangenheit spricht – nicht ein „mondener Glanz“ wie auf einer Schneelandschaft, und ist ihre Schulter von der mächtigen Pelzstola nicht umkränzt wie von einem bewaldeten Gebirge, durch das der Nachtwind fährt?

 

Klaus Kreimeier

 

Dieser Text wurde unter dem irrtümlichen Titel „Die Kuh auf dem Eis“ erstmals veröffentlicht in: Ernst Karpf (Hrsg.): „Bei mir bist Du schön“: die Macht der Schönheit und ihre Konstruktion im Film, Marburg: Schüren 1994. Band 11 der Arnoldshainer Filmgespräche

 

Shanghai-Express

SHANGHAI EXPRESS

USA – 1932 – 77 min. – schwarzweiß – Verleih: Paramount – Erstaufführung: 11.4.1932/14.12.1951 (WA)/26.10.1964 ZDF

Regie: Josef von Sternberg

Buch: Jules Furthman

Vorlage: nach einer Erzählung von Harry Hervey

Kamera: Lee Garmes

Musik:W. Franke Harling

Darsteller:

Marlene Dietrich

Clive Brook

Anna May Wong

Warner Oland

Eugene Pallette

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