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Tunguska
– Die Kisten sind da
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Egomania
– Insel ohne Hoffnung
Schafe
in Wales
Mutters
Maske
100
Jahre Adolf Hitler
Portrait:
Christoph
Schlingensief
Anfang
der 80er Jahre war der Neue Deutsche Film in die Jahre gekommen und reagierte
betroffen und weinerlich auf den Verlust der politischen und auch ästhetischen
Utopien. Eine Krise der Sinnstifter, diagnostizierte der Filmenthusiast Christoph
Schlingensief, und eine Neurose, die nicht die seine war. Statt sich als Opfer
zu fühlen und dem verlorenen Glauben an den Fortschritt hinterherzutrauern,
schlug er zu Beginn des Jahrzehnts – 1980 war er 20 Jahre alt – eine Täterkarriere
ein (“Die verbrecherische Lust, einen Film zu machen”), d.h. er kultivierte
den Glauben an sich. Ohne jede Rücksicht auf die Normen des Erzählkinos
oder auf die Theorien der Avantgardekunst oder auf die Verwertbarkeit seiner
Filme begab er sich als Abenteurer, Held und Einzelkämpfer auf die Suche
nach Ausdruck für eigene Bilder, eigene Mythen und eigene Symbole. Schlingensiefs
Kreativität nutzt den Film als Bilder-Medium in seiner ganzen Breite. Die
Expressivität, die im Stummfilm möglich war, wird wieder Gegenwart,
und der Glaube an die (eigene) Emotionalität, die der narrative Film, aber
auch der politische und experimentelle Film in den beiden Jahrzehnten zuvor
ausgetrieben hatte, ist wiederhergestellt. Selbstredend mit allen Unwägbarkeiten,
aber auch mit allen Hoffnungen.
Es
ist richtig, dass Schlingensief keiner Schule angehört (auch wenn er Assistent
von Werner Nekes war), noch dass er eine solche begründet hat (auch wenn
er Film in Offenbach und Düsseldorf gelehrt hat). Aber er hat Paten. Auf
Bataille beruft er sich (“Wir müssen unseren Kindern die merkwürdige
Abweichung beibringen, die der Ekel ist”). Wir wollen ihm Artaud beiseite stellen:
“Das Aufkommen des Kinos fällt zusammen mit einer Wende im menschlichen
Denken – mit genau jenem Zeitpunkt, an dem die Sprache, verbraucht, ihre Symbolkraft
verliert. Das klare Denken genügt nicht. Es definiert eine bis zum Übelwerden
verbrauchte Welt.”
Die
verbrauchte Welt der Väter und Mütter, der Avantgardeforscher und
der alt gewordenen Jungfilmer, des Dr. Faustus und des Teufels, des Adolf Hitler
und seiner Getreuen im Führerbunker – sie wird in Schlingensiefs Filmen
ins Extrem und in die Katastrophe getrieben; nur wer das Überleben trainiert
(und das Bilder-Lesen gelernt) hat, überlebt, und das sind stets die mehr
oder minder deformierten Kinder dieser Eltern. Schlingensiefs Filme sind daher
katastrophale Familienfilme aus der Sicht der Pubertierenden (“Ich mache pubertäre
Filme”, sagt er, wobei das Adjektiv für ihn – Rimbaud! – positiv besetzt
ist). Die Katastrophen sind austauschbar, niemals “Thema”; sie dienen den Jungen
als Stimulanz, sich selbst zu behaupten. Schlingensiefs Familienserie vermittelt
Überlebenstraining – für die, die auch das Sehen trainieren möchten.
Wobei nötig ist, sich von den außermedialen (literarischen) Eingrenzungen
des Bilder-Mediums zu befreien. Eine vom Erzählkino noch nicht korrumpierte
Seh-Erfahrung ist gefordert – eine Erfahrung, die jeder wie selbstverständlich
aus anderen Medien mitbringt, wenn er Musik hören kann, ohne sie auf einen
Text oder einen Gedanken reduzieren zu müssen. Schlingensief, der noch
in den ersten beiden 80er Jahren in einer Musikgruppe spielte (Vier Kaiserlein),
versucht in seinen Filmen, die Seh-Erfahrung von den narrativen Fesseln zu befreien
und Filmverständnis wie Filmkritik zu beleben. Selbstverständlich
geschieht dies lustvoll-bildhaft und keineswegs argumentativ-diskursiv.
Tunguska
– Die Kisten sind da
Mit
der “Trilogie zur Filmkritik – Film als Neurose” (1983/84) entwirft er sein
erstes Sehsportprogramm. Die beiden ersten Teile, Kurzfilme, erhellen die reduzierte,
ja unmündige Position des Zuschauers (Filmkritikers). In PHANTASUS MUSS
ANDERS WERDEN (1983) harrt auf einstweilen sprachlose Säuglinge die Aufgabe,
sich dereinst aus Normen und Zwängen sowohl der Familie als auch der Kunstformen
zu befreien. Dass dieser Befreiungskampf jedenfalls filmisch mit höchstem
Lustgewinn verbunden ist, lehrt WHAT HAPPENED TO MAGDALENA JUNG? (1983), denn
Magdalena, die fliegen kann, widerspricht mit größtem Vergnügen
sowohl den physikalischen Normen als auch den Vorschriften für filmischen
Realismus. Im letzten Teil der Trilogie, dem 75-Minuten-Film TUNGUSKA – DIE
KISTEN SIND DA (1983/84), entwirft Schlingensief mit animatorischer Geste zum
erstenmal seine eigenen Spielregeln, Filmbilder ohne theoretisches Vorverständnis
zu erfassen, operabel zu machen und für eigene Zwecke zu benützen.
TUNGUSKA
ist ein Film von unten. Denn was hat man von den achtzig Theorien, die die Tunguska-Katastrophe
von 1908 erklären wollen? Trotz immensem akademischen Aufwand bleibt die
Ursache der gigantischen Explosion in Sibirien unbegreiflich. Schlingensief
liefert also nicht die 81. Katastrophentheorie, aber er bringt das Katastrophale
nahe; am nächsten ist es, wenn es in die Familie einbricht, wenn zum Beispiel
Tina und Rolf, schon erwachsene, aber unerfahrene, arglose und daher so gut
wie autistische Zuschauer im heimischen Flußgebiet in die Hände tyrannisierender
und vampyröser Avantgardeforscher geraten. Die Forscher grenzen aus, schränken
das Sehfeld ein, machen Vorschriften. Was ist zu tun? Schlingensiefs Abenteuerfilm
ist ein Spiel-Film, der Spiel-Regeln aufstellt, die es erlauben, die optischen
Schätze mit ihren emotionalen Genüssen zu heben. Es geht darum, die
mit diesem Film symbolisch hingestellten Kisten zu öffnen. Dieses Vergnügen
beherrscht jeder, der zu Haus die richtigen Disketten hat und schon einmal mittels
Joystick durchs Programm gefahren ist, Tür & Tor, Kisten & Kasten
öffnend auf der Suche nach dem großen Geheimnis.
TUNGUSKA
– DIE KISTEN SIND DA ist ein Vergeltungsschlag gegen den tödlichen Ernst,
mit dem die realen Avantgardeforscher dem Publikum die neuen Sehweisen einzubleuen
suchten. Schlingensief plünderte frohgemut, was in den Amtskisten bis dahin
vor unbefugtem Gebrauch geschützt war. Mit Lust & Liebe und durchaus
mutwillig ging er mit allem um, was der experimentelle Film zäh und fleißig
erarbeitet hatte. Er genierte sich nicht, gleichzeitig einen Heimatfilm, einen
Actionfilm und eine Show darzubieten. Und da das TUNGUSKA-Spiel eine atemberaubende
Abrechnung mit zwanzig Jahren Filmgeschichte und Kunsttheorie ist, war es nicht
übertrieben, Schlingensiefs ersten großen Film einen genialen Wurf
zu nennen. Denn zum erstenmal war ein Bild gefunden, ein Ausdruck, der es erlaubte,
die Hilflosigkeit, Unerfahrenheit und Verletzlichkeit des normalen Zuschauers
anschaulich und erfahrbar zu machen, wie er von Eltern, Lehrern oder eben Forschern
auf ziemlich anormale, ja perverse, aber schon wieder faszinierende Weise mißbraucht
wird.
Da
Tina und Rolf im Abenteuerwald – das Käuzchen ruft, der Wind heult, und
Nacht bricht an – das Geschehen nur als Zuschauer, nämlich wehrlos verfolgen
können, sind sie dem Horrorteam der deutschen Avantgardeforscher hoffnungslos
ausgeliefert. Das Zuschauerpaar kommt weder zu Wort noch zu einer eigenen Entscheidung.
Erbarmungslos wird ihnen eingebleut, was angezeigt ist und wie es gezeigt wird.
Und leider sagen die vielen Vorschriften, die ihnen gemacht werden, nichts darüber,
warum sie überhaupt zusehen sollen. Tina und Rolf, gefangen im düsteren
Avantgardeschloß, sind durchaus unfreiwilliges Publikum. Die Fluchtversuche
scheitern. Alle Action führt zu Frust und Lähmung.
Die
Bilder des TUNGUSKA-Films sprechen jedoch eine andere Sprache, und dem tumben
Zuschauerpaar möchte man zurufen: Mensch, dreh dich um, hinter dir, pass
doch auf! Denn die schier überbordende Flut experimenteller Einfälle
fordert zum Spiel auf – zum bösen Spiel mit den Horrorforschern. Im Siegfriedwald
blendet sich auf dem Hut des Riesenpilzes das Menschenpaar ein. Major Pater
Hilf (Schlingensief) sucht in den Flammen sein Heil; ruckend bleibt der Film
im Projektor stecken, und die Glut nagt an den Rändern des Kaders. Oskar
Fischingers klassische KOMPOSITION IN BLAU (1934/35) wird zitiert und extremisiert:
Schlingensief bettet die Farbe in Rot. Damit ist die Komposition sein Exponat;
er ist autark, ganz Gegenwart und auf der Hut, den Angriff der anderen Zeiten,
die Theorien der Wissenschaft und Kunst abzuwehren. Eine übermütige
und kurzweilige Schlacht – im Namen der Jugend hier & jetzt.
Die
Avantgardetechnik Fischingers und die Expressivität des Stummfilms werden
zum Rüstzeug für die eigene Tat (Schlingensiefs Rat: “Die Zutaten
von früher gut kennen, damit man sie (…) frei und beliebig zur eigenen
Tat benutzen kann”). Seine Botschaft ist, dass er keine Botschaften verkünden
will: “Ich will keine Message, ich fordere lediglich eine Messe! Eine Messe
als Symbol, in einer Welt der peinlichen Symbole, für alle die, die täglich
um Verzeihung bitten und die täglich auf Erlösung hoffen, – eine Messe
also für all jene, die wir schlachten und ermorden wollen”. So spricht
jedenfalls Major Pater Hilf in TUNGUSKA – DIE KISTEN SIND DA.
Die
Messen, die er mit seinen nächsten Filmen zuverlässig abhält,
sind Ernst und Travestie in einem, abenteuerliche Suche nach Erleuchtung und
exzentrische Drohgebärde, böses Schwarz und grelle Komik. “Einen religiösen
Beitrag” steuert er zum Buch “Kino-Fronten” bei: “Wir alle suchen nach Bildern,
die uns Anhaltspunkte geben in einer Zeit, in der man uns alles erklärt
hat. Wie großartig sind da grade die Dinge, die nichts erklären,
– die sich uns zur freien Verfügung präsentieren. Wie großartig
ist die Monstranz, die etwas zeigt, was wir nicht wissen.” (Schlingensief, 1988).
Menu
Total
Die
kecke Attitüde täuscht nicht darüber hinweg, dass hier einer
ernst macht, in den Bildern, die ihn umgeben und die er mit sich trägt,
Anhaltspunkte zu finden. MENU TOTAL (1985/86), schwarz-weiss (und in Super-16mm,
einem ungewöhnlichen Format) gedreht, ist einerseits quasi-dokumentarische
Aufzeichnung der Rituale einer Elterngeneration, die den Kindern Angst machen.
Andererseits trainiert der Film in expressiv verdichteten Sequenzen Flucht und
Überleben. Doch das furchtbare Faszinosum der Naziuniformen erledigt sich
nicht.
Montiert
ist der Film als Folge eines Fotoromans oder präziser gesagt einer Fernsehserie,
was den Vorteil hat, dass die narrative Struktur ihren Sinn von selbst entleert
(das weiß jeder DALLAS-Zuschauer, nachdem der tote Bobby Ewing duschte
und plötzlich wieder dabei war). Die Bilder der MENU TOTAL-Serie dokumentieren
Schlingensiefs Heimat; sämtliche Drehorte finden sich um Mülheim/Ruhr
herum. Es ist richtig, dass diese Vorgaben vom Fast-nicht-Etat diktiert wurden,
den Schlingensief für diesen (wie für die folgenden Filme) hatte:
jeweils wenige tausend Mark. Es waren jedoch gerade die Bilder der Unverwechselbarkeit
und Nähe, die zum Ausdruck brachten, wie einer den Drehort wahr- und ernstnahm,
und wie gerade im heimischen Bereich der ideologischen Besetzung aller Bilder
getrotzt und etwas gefunden werden konnte. In der Montage findet MENU TOTAL
zur einheitlichen expressiven, hintergründig-komischen, hintergründig-wahrheitssuchenden
Gebärde.
Ein
noch nicht besetztes Bild für eine Messe ist in MENU TOTAL eine Elternpolonaise.
Ausgelassen haben sie auf einer Picknickwiese in Mülheim-Speldorf ihre
alten Naziuniformen wieder angelegt. Da macht die Polonaise noch mehr Spaß.
Die Mama gibt das Startzeichen für eine außergewöhnliche Vorführung.
Derweil wird Sohn Joe aus dem Schlaf gerissen. Aber wird er verstehen, was sie
mit ihm vorhaben? Wird er sich dem brutalen Kampf der Systeme widersetzen können?
Klappt der Austausch von Sperma? Wird er das rohe menschliche Gehirn essen?
Joe scheint verloren. Sein Weg führt in einen verlassenen Schacht der Zeche
Rosendelle, wo sich ein Versuchslabor befindet. Joe verweigert die Nahrungsaufnahme,
wird operiert und kann trotzdem fliehen. Die Sache gerät in Bewegung! Dr.
De Pen bringt Cuca, die Stinkende, um, trifft sich mit seiner Assistenzärztin
in Hemer/Sauerland und nimmt Martha, die an den Rollstuhl gefesselte Jungfrau,
entgegen. Während Evi den Schwanz brät und ihn von Wolf in den Mund
gestopft bekommt, flüchtet Joe abermals und erreicht das im friesischen
Stil erbaute und mittlerweile von Evi besetzte Haus in der Nähe der Polonaiseveranstaltung.
Immer wieder grüßen Zombies den gröhlenden Führer. Die
Lage scheint verworren. Wird Dr. De Pen die Situation klären und seinen
Sohn töten können oder selbst den Tod finden? Und was ist Menu total?
Cuca jedenfalls fand das Menu zum Kotzen; die Kid- und Meat-Generation liebt
nur das abgehangene Fleisch.
Die
Worte, die den Inhalt von MENU TOTAL wiedergeben, bringen ihrerseits zum Ausdruck,
wie die Gebärde des Ekelns und des Faszinieren-lassens den Inhalt des narrativ
entleerten Serienplots ausmacht. Die Vätergeneration wird in diesem Film
restlos bewältigt, zwar unakademisch, aber frontal. Das Problem ist gegessen,
und wem’s nicht kannibalisch wohl ist, der kotzt sofort – übern Tisch oder
wohin auch immer. Auch der Autor dieses Porträts, der sich seit diesem
Film der erweiterten Schlingensieffamilie zurechnet, begann, sich mit der kannibalistischen
Lösung der Vergangenheitsbewältigung anzufreunden.
Egomania
– Insel ohne Hoffnung
In
EGOMANIA – INSEL OHNE HOFFNUNG (1986) ist Schlingensief statt in der geografischen
und sozialen, nunmehr in der ideologischen und mythischen Heimat auf Bild-Suche.
Seine Protagonisten, in einer Dr. Faustus-Zeit angesiedelt, spielen ein Drama
über Liebe, Eifersucht, Gier und Mord. Eis und Schnee, unter denen der
Drehort Langeneß begraben ist, sind von Schlingensief, der wieder genau
hingesehen hat, in Beziehung gesetzt worden zu den zu Bild-Chiffren erstarrten
Gedanken und Mythen, die den Menschen eine unwirtliche Wirklichkeit bescheren.
Zur Befreiung aus dieser Wirklichkeit des Nebels, der Kälte, des Sturms
und der getürmten Eisschollen bedarf es eines kriminellen Akts und der
verbrecherischen Lust. “Jede Schandtat führt zum Bruch mit der Wirklichkeit”,
erkennt der Notar. Statt einer durchgehenden Handlung, statt Dialoge, deren
Sinn sich abfragen ließe, organisiert der Film Bild-Szenen und verbale
Aphorismen für die hoffnungslose Generationenschlacht – und auch für
den Befreiungsschlag. EGOMANIA, in seiner Überfülle von Bildern und
Tönen, grellen und wieder zarten Farben, seinen jähen Eingebungen
und Obsessionen, setzt die Phantasie frei, die es für den destruktiven
und visionären Akt der Hoffnung braucht. “Nagt an Dir ein Gedanke – denk
ihn weg”, rät der Film, “oder leide”. Zögernde mahnt der Erzähler:
“Zerstören wir nicht den Gedanken, zerstört der Gedanke uns”. Dann
bist Du frei “zu handeln, wie Dir Dein Dämon vorschreibt”.
EGOMANIA
– eher ein Essay- und Aphorismenfilm – nutzt die Neurose als treibende Kraft,
in der Gebärde und in der Manier genug Selbstbehauptung zu entwickeln,
um dem überall gegenwärtigen Gedankeneis, den Gedankenschollen und
-trümmern zu trotzen. Dem ersten Anschein nach aufgebaut wie eine Schicksals-TV-Serie,
taucht der Film wie von ungefähr – gleichsam treibend wie die Schollen
um die Hallig Langeneß herum – in die Zeit von Schiller ein (“Gehorcht
dem Dämon, der Euch sinnlos wütend treibt”), in die Zeit der Hexen
aus Macbeth, in die Zeit des Fliegenden Holländers (eine Holländerin
ist es im Film) und in die Zeit der Caspar David Friedrich-Natur – um sich diese
Zeiten zu eigen zu machen, nämlich um die eigene Intensität zu vervielfachen.
Das ist recht deutlich auf der Tonspur zu hören, auf der eine Gruppe, zu
der auch Christoph Schlingensief gehört, nach dem neuesten Stand der Jetztzeit
musiziert.
Schafe
in Wales
In
SCHAFE IN WALES (1988), bei dem er zum erstenmal ein fremdes Drehbuch verfilmte,
gelang es Schlingensief, dem Plot die narrative Banalität auszutreiben,
aus dem “Vorderen das Hintere” zu machen, keinen Streit (mit den Drehbuchautoren)
zu vermeiden und die Schnittfassung, die als Kleines Fernsehspiel ausgestrahlt
wurde, zu mißbilligen (er zog seinen Namen aus dem Vorspann zurück).
Aber auch in der publizierten Fassung hat sich Schlingensiefs Expressivität
und Exzentrizität durchgesetzt. Täter und Opfer im Generationenkonflikt,
Wölfe in Berlin und Schafe in Wales. Täter, deren verbrecherische
Lust das Überleben (sowie das Kunstwerk) garantiert, sind entgegen der
landläufigen Erwartung, aber entsprechend dem Schlingensief-Kosmos die
Kinder: die dicklichen und flinken Zwillinge Felix und Jacob. Im Tegeler Forst
huschen Wölfe, eine hell erleuchtete U-Bahn rumpelt durch Nacht und Kälte
und vereint die Protagonisten. Ein Erwachsener (Volker Spengler) sucht die Freundschaft
der Kinder, um Verzweiflung und Aggression gegen kindliche Sicherheit und Unbefangenheit
einzutauschen. Kindisch, gefährlich und potentielle Opfer sind die Erwachsenen:
eine Hausfrau; ein Reiseleiter, der seine Gruppe “Rucki-Zucki” gröhlen
läßt; die Besucher der (verbotenen) Hundekampfveranstaltung. Die
neueste Kiez-Mode ist mit dem Wolfs-Mythos vernetzt, und Schlingensief inszeniert
eine von der Vergangenheit besetzte Albtraumwirklichkeit, die zu Tat und Verbrechen
aufruft, will man überleben. Das Faszinosum der Väterwelt und der
sündige Kitzel, sich ihrer zu entledigen, kommen in dem zum Ausdruck, was
Schlingensief mit Vorbedacht extremisiert, überzeichnet und in eine makabre
Groteske getrieben hat. Die emotionale Schichtung der aus ihrem narrativen Konnex
weitgehend befreiten dramaturgischen Elemente, Geräusche, Ton, Musik setzt
Intensitäten frei, die zur unmittelbaren Kommunikation führen.
Mutters
Maske
Bereits
in MUTTERS MASKE (1987/88) hatte Schlingensief eine neue Taktik gegenüber
dem Erzählkino erprobt. Er erklärt ihm überdiemaßen die
Liebe, umschlingt es im vorsätzlichen Liebesrausch und treibt es in den
Wahnsinn, dass nicht nur ihm die Sinne vergehen. In MUTTERS MASKE ist die LINDENSTRASSE
in den Exzess getrieben (das Hintere nach vorn und umgekehrt). Die Expressivität
seiner ersten Filme, die an Werner Schroeters Werke zur camp-Zeit gemahnt, findet
sich jetzt in einem Volks-Stück wieder, das die Tradition eines Veit Harlan
pflegt. In einer geschichtlich nicht eindeutig fixierten Zeit, aber geografisch
eindeutig in der modernen Einkaufscity von Mülheim/Ruhr, vollzieht sich
das Ritual des bekannten Opfergangs. Und wichtig ist nicht der narrative Verlauf
(er kann vorausgesetzt werden), wohl aber, dass Schlingensiefs Helden es ernst
meinen. MUTTERS MASKE ist keine Parodie, zu sehr sind die Darsteller davon erfüllt,
den Opfergang zu zelebrieren. Spielfreude, Atmosphäre (Vorhänge, Wind,
ein Käuzchenschrei), Musik brechen narrative Kapseln auf und setzen ungehemmt
und ohne Scheu Emotionen frei, die konventionellerweise eingeklemmt und verbogen
sind. Ein Enthusiasmus teilt sich mit, der mühelos und damit wieder hintergründig
arg komisch die Schicksalsproblematik von MUTTERS MASKE auf die Spitze treibt.
Schicksal ist sowohl das Heimkehrer- wie das Aidsdrama. Das geht folgendermaßen:
Am
28. September kehrt Willy von Mühlenbeck (Karl Friedrich Mewes) in die
Bundesrepublik zurück und muss erkennen, dass sein Bruder Martin (Helge
Schneider) zum lautstarken Familienoberhaupt aufgestiegen ist, während
seine Mutter (Brigitte Kausch), ihrem metaphysischen Instinkt folgend, einen
Opferweg eingeschlagen hat, den auch die dem Tode geweihte Nachbarin Els (Susanne
Bredehöft) trotz liebevoller Bemühungen ihres Geliebten Willy kreuzen
wird. Doch Willys und Els’ Liebe steigert sich im Laufe der Zeit so sehr, dass
es zu jenem verhängnisvollen Kuss kommt, der dem ahnungslosen Willy die
tödliche Gefahr einer Infektion bringt und ihn somit zu dem von allen Familienmitgliedern,
insbesondere seinem Bruder, sehnsuchtsvoll erwarteten letzten Schritt treibt.
MUTTERS MASKE demaskiert die Drehorte. Was in den Fußgängerpassagen
von Mülheim, im Schloss Styrum oder in der Villa Thyssen an Gefühlen
steckt, wird spielerisch freigesetzt.
100
Jahre Adolf Hitler
Mit
eben der gleichen Umarmungstaktik näherte sich Schlingensief in seinem
jüngsten Film 100 JAHRE ADOLF HITLER – DIE LETZTE STUNDE IM FÜHRERBUNKER
(1988/89) furchtlos und unerschrocken Zeitfiguren, deren Darstellung normalerweise
mit einigen Tabus belegt ist. Gedreht wurde er an einem einzigen Tag (für
14.000 DM) in einem alten mülheimer Bunker; die Darsteller transportieren
die sich klaustrophobisch selbst nährende Hysterie der Familie (Hitlers),
die aber auch die einer Wohngemeinschaft zwanzig Jahre später oder sonst
einer ab- und eingeschlossenen Gemeinschaft der Vätergeneration sein könnte.
Wieder
ist der Drehort genau wahrgenommen. Er diktiert ebenso das Spiel wie die Handleuchte
des Regisseurs, die aus Nacht und Schwarz Körper und Gesten hervorholt,
die gemeinsame Expressivität von Ort und Personen suchend und findend.
Witz und Horror. Im hohen Lied von Deutscher Weihnacht und Deutscher Treue schleichen
sich Mißtöne ein. Hass bricht aus über verschüttetes Salz,
und der Führer hält seit Stalingrad die Essenszeiten nicht mehr ein.
Udo Kier ist als Adolf Hitler fast stumm, aber ergreifend. Brigitte Kausch läuft
als Hitler-Double zwar der historischen Wahrheit nicht hinterher, wohl aber
zu einsamer Größe auf. Alfred Edel wird nicht Reichskanzler, weil
die Quotenregelung eine Reichskanzlerin gebietet. Volker Spengler reduziert
seine Präsenz aufs Ficken, womit ein Verräter gefunden ist. Und Goebbels
(der Autor) ist seiner Ehefrau (Margit Carstensen) als Hebamme zur Hand.
Wie
man sieht, ist Schlingensiefs 100 JAHRE ADOLF HITLER kein historischer Lehrfilm.
Aber er zieht seine Lehre aus dem Expressionismus des deutschen Stummfilms.
Zwar verkündet Edel, der Göring: “Ich will Reichskanzler werden!”
“Damit will er aber sagen: ,Ich muss Caligari werden.`” (Jörg Schöning).
Schlingensief repariert mit seinen Filmen und insbesondere mit 100 JAHRE ADOLF
HITLER den Bruch der deutschen Filmgeschichte, und er behebt die emotionalen
Defizite des narrativen Kinos, auf das sie der Tonfilm reduzierte. Wobei er
sicherlich kein Traditionspfleger ist, denn die Expressivität des stummen
Films ist seine Sache geworden, durchaus auch schrill und laut. Der Hitler-Film
ist gegenwärtig; der Führer sieht in seinem Bunker auf dem Fernseher
einen anderen Weltverbesserer sprechen: Wim Wenders fordert in Cannes, “die
Bilder der Welt zu verbessern, um die Welt zu verbessern”. Auch Franz Josef
Strauss erteilt auf dem Führermonitor gute Ratschläge.
Schlingensief,
enfant terrible des deutschen Films, erteilt keine Ratschläge. Er schreitet
zur Tat. 100 JAHRE ADOLF HITLER korrespondiert mit einem aktuellen Bedürfnis,
Hitler nicht mehr als Phänomen des Bösen zu behandeln (wie war es
doch bequem, den Führer zeitlich und örtlich auszugrenzen, um dann
selbstzufrieden zu erklären, dass man damit nichts zu habe). Heute gilt
vielmehr: “Hitler bin ich” (André Glucksman). Sich selbst (und uns) Mut
machend, überwindet Schlingensief vorsätzlich Berührungsängste,
so eklig das auch ist und so viel Abweichung heute auch darin gesehen wird,
und beschwört das Nicht-Geheure. Indem er Mythen des Stummfilms aktiviert,
bindet er die alte Expressivität, die er – wie Werner Schroeter – freigesetzt
hatte, an die Generation der Väter, Großväter und Vorderen.
Und damit ist er einzigartig im deutschen Film.
(Zu "100 Jahre Adolf Hitler" gibt es im archiv der filmzentrale mehrere Texte)
Dietrich
Kuhlbrodt
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: epd film, 1989
Tunguska
– Die Kisten sind da
BRD
1983/84
Regie,
Buch: Christoph Schlingensief. Script: Eckhard Kuchenbecker. Kamera:
Dominik(us) Probst. Kamera-Assistenz:
Thomas Göttemann. Tricks: Norbert Schliewe, Christoph Schlingensief. Licht:
Reinold Specks. Ausstattung: Bertram Strauß. Kostüme: Julia Strauß.
Schnitt: Barbara Lamsfuß. Ton: Andreas Wölki. Mischung: Hadeko, Neuss
(Herr Bontsch) ,Orgel: Christoph Schlingensief; Trommel: Baba Yoro Diop, Christoph
Gerozissis, Mathias Colli; Jugendorchesterleitung: Wolfgang Dehnert. Teambetreuung:
Gerhard Fechter
Darsteller:
Irene Fischer, Mathias Colli, Anna Fechter, Alfred Edel, Vladimir Konetzny,
Norbert Schliewe, Volker Bertzky, Christopher Krieg (= Christoph Schlingensief).
Produktion: DEM Film, Oberhausen. Produzent: Christoph Schlingensief. Produktionsleitung:
Edgar Cox. Aufnahmeleitung: Ralf Malwitz. Drehzeit: ab November 1983. Drehort:
Mülheim.
Länge:
807 m, 71 min. Format: 16mm, Farbe, 1:1.33.
Uraufführung:
25.10.1984, Hof (Filmtage).
3.
Teil der "Trilogie zur Filmkritik – Film als Neurose".
Unter
Verwendung von Szenen aus: Komposition in Blau / Lichtkonzert Nr. 1, R: Oskar
Fischinger, 1934/35 D.
Voraufführung:
28.9.1984, Mülheim (Stadthalle) im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Kultur
NRW ’84".
Nordrheinwestfälischer
Produzentenpreis 1985, 1983/84.
Menu
Total
BRD
1985/86
Regie,
Buch: Christoph Schlingensief. Script: Volker Bertzky. Kamera: Christoph Schlingensief.
Kamera-Assistenz: Ralf Malwitz. Technik, Licht: Norbert Schliewe. Kostüme:
Katrin Köster, Eckhard Kuchenbecker. Schnitt: Eva Will. Ton:
Andreas Wölki. Musik:
Helge Schneider. Filmskizzen: Ariane Traub. Catering: Gerhard Fechter, Anna
Fechter. Hospitanz: Carsten Lorenz.
Darsteller:
Helge Schneider, Volker Bertzky, Dietrich Kuhlbrodt, Alfred Edel, Reinald Schnell,
Anna Fechter, Joe Bausch, Annette Bleckmann, Thirza Bruncken, Wolfgang Schulte.
Produktion:
DEM Filmproduktion, Oberhausen / Hymen II. Produzent: Christoph Schlingensief.
Produktionsleitung: Wolfgang Schulte. Aufnahmeleitung: Stefan Sowa. Drehzeit:
Mai 1985. Drehort: Mülheim und Umgebung (Speldorf, Zeche Rosendelle).
Länge:
2202 m, 81 min. Format: Super-16mm aufgeblasen auf 35mm, s/w (Ilford), 1:1.66.
Uraufführung:
20.2.1986, Berlin (IFF – Forum).
Arbeitstitel:
Meat, Your Parents. Piece to Piece; Hymen 2 – Die Schlacht der Vernunft
Egomania
– Insel ohne Hoffnung
BRD
1986
Regie:
Christoph Schlingensief. Regie-Assistenz: Beatrice Hasler. Buch: Christoph Schlingensief.
Kamera:
Dominik(us) Probst. Kamera-Assistenz:
Kim Koch. Kostüme: Anna Fechter. Schnitt: Thekla von Mülheim (= Christoph
Schlingensief); Assistenz: Beatrice Hasler. Ton:
Alf Olbrisch. Musik:
Tom Dokoupil, Christoph Schlingensief, Helge Schneider, Sonoton/München,
Ella Johnson. Grafik: Uli Hanisch.
Darsteller:
Udo Kier, Tilda Swinton, Uwe Fellensiek, Anna Fechter, Anastasia Kudelka, Volker
Bertzky, Dietrich Kuhlbrodt, Wolfgang Schulte, Ark Boysen, Melf Boysen; Sprecher:
Werner Funke, Anna Fechter, Christopher Krieg (= Christoph Schlingensief).
Produktion:
DEM Filmproduktion, Mülheim. Produzent: Christoph Schlingensief. Produktionsleitung:
Wolfgang Schulte; Assistenz: Frank Rehberg, Ariane Traub.
Drehzeit:
März 1986. Drehort: Hallig Langeneß, Hamburg.
Länge:
84 min. Format: 16mm, Farbe (Agfa Gevaert), 1:1.66.
Uraufführung:
24.10.1986, Hof (Filmtage); Kinostart: 20.5.1987.
Mutters
Maske
BRD
1987/88
Regie:
Christoph Schlingensief. Regie-Assistenz:
Beatrice Hasler, Mathias Colli. Script: Marie Lou Sellem. Buch:
Mathias Colli, Christoph Schlingensief. Kamera: Christoph Schlingensief. Kamera-Assistenz:
Ralf Malwitz. Licht: Foxi Bärenklau. Standfotos: Michael Kerstgens. Ausstattung:
Bodo von Hasselbeck. Kostüme,
Maske: Anna Fechter, Regina Stiplosak. Schnitt:
Thekla von Mülheim (= Christoph Schlingensief); Assistenz: Ariane Traub.
Ton: Eckhard Kuchenbecker, Andreas Wölki. Mischung: Hans Georg Kobeck.
Musik: Helge Schneider & Menu total, Hatte Grabe, Wally Böcker, Charly
Weiss. Gesang (Titelsong): Eva Kurowski.
Darsteller:
Brigitte Kausch, Karl Friedrich Mews, Helge Schneider, Susanne Bredehöft,
Anna Fechter, Volker Bertzky, Dieter Lersch, Andreas Kunze, Conny Jurkait, Regina
Stiplosak, Annastasia Kudelka, Baronin Irmgard Freifrau von Berswordt-Wallrabe,
Conny Fechter, Doris Kreis, Uli Hanisch, Peter Jurkait, Dennis Koehnen, Udo
Kier.
Produktion:
DEM Filmproduktion, Mülheim / Hymen II. Produzent: Christoph Schlingensief.
Produktionsleitung: Kim Ludolf Koch. Aufnahmeleitung: Uli Hanisch. Drehzeit:
ab November 1987. Drehort: Mülheim und Umgebung (Schloß Styrum, Villa
Thyssen).
Länge:
85 min. Format: 16mm, Farbe, 1:1.33.
Uraufführung:
28.10.1988, Hof (Filmtage).
Arbeitstitel:
Blutsturz.
Zu diesem Film gibt es im archiv der filmzentrale mehrere Texte
100
Jahre Adolf Hitler
BRD
1988/89
Regie:
Christoph Schlingensief. Regie-Assistenz: Uli Hanisch, Ariane Traub. Buch: Christoph
Schlingensief; nach seinem Theaterstück. Kamera: Foxi Bärenklau. Kamera-Assistenz,
Standfotos: Christian Deubel. Ausstattung: Uli Hanisch. Requisite:
Ariane Traub. Schnitt:
Thekla von Mülheim (= Christoph Schlingensief); Assistenz: Volker Bertzky.
Ton: Günther Knon; Überspielung: Andreas Wölki. Mischung, Musik:
Tom Dokoupil.
Darsteller:
Volker Spengler, Brigitte Kausch, Margit Carstensen, Dietrich Kuhlbrodt, Alfred
Edel, Andreas Kunze, Udo Kier, Marie-Lou Sellem, Asia Verdi, diverse Kinder,
ein Hund.
Produktion:
DEM Filmproduktion, Mülheim / Hymen II; mit Unterstützung von Madeleine
Remy Filmproduktion, Berlin/West. Produzent: Christoph Schlingensief. Produktionsleitung:
Christian Fürst, Ruth Bamberg. Drehzeit: 28.11.1988 (8.30 Uhr) – 29.11.1988
(2.30 Uhr). Drehort: Mülheim (Bunker Bergstrasse).
Länge:
60 min. Format: 16mm, s/w, 1:1.33.
Uraufführung:
18.2.1989, Berlin (IFF – Forum).
Szenen
mit Dieter Lersch und Volker Bertzky fanden im fertigen Film keine Verwendung.
DVD bei :
System:
PAL
Laufzeit:
ca. 55 Minuten + Extras
Bildformat:
4:3
Tonformat:
Originalkinoton: lautes Mono
Extras: Interview mit Christoph Schlingensief
FSK: ab 16
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